Das Kind der Rache
Cochran deckte die Sprechmuschel des Telefons mit der
Hand ab. »Lisa«, rief sie. »Ein Gespräch für dich.« Einige
Sekunden verstrichen, ohne daß sie eine Antwort bekam.
»Lisa, wo bleibst du denn?«
»Ich bin für niemanden zu sprechen«, ließ sich ihre Tochter
aus dem ersten Stock vernehmen.
»Sie möchte jetzt mit niemandem reden, Kate«, sagte Carol.
»Es tut mir leid, aber ich kann sie nicht umstimmen. Sie wird
dich später zurückrufen, einverstanden?«
Sie legte auf und ging die Treppe hoch, wo sie ihre kleine
Tochter Kim im Flur vorfand.
»Lisa hat von innen abgeschlossen«, sagte die Sechsjährige.
»Ich kümmere mich um sie, Kim. Geh und such deinen
Vater.«
»Hat er sich etwa verirrt?« fragte Kim.
»Geh hinunter, ich möchte jetzt mit deiner Schwester
sprechen.«
»Warum überläßt du das nicht mir? Ich kann doch auch mit
ihr sprechen.«
»Ich bin überzeugt, daß du das kannst«, sagte Carol. »Aber
jetzt möchte ich mit ihr reden, und zwar unter vier Augen.«
Kims Neugier war geweckt. »Geht es um Alex?«
»Auch um Alex.«
»Wird Alex sterben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carol. Sie hatte sich vorgenommen, immer wahrhaftig zu ihren Kindern zu sein, und sie
stand zu ihrem Entschluß. »Wenn er wirklich stirbt, dann
haben wir noch Zeit, darüber zu reden. Ich hoffe aber, daß er
überlebt. Und nun geh.«
Kim wußte, wann die Geduld ihrer Mutter erschöpft war,
und gehorchte. Carol durchquerte den Flur und klopfte an die
Tür ihrer Tochter.
»Lisa?«
Keine Antwort. Aber dann war das Geräusch des Schlüssels
zu hören. Die Tür öffnete sich, Lisa eilte zu ihrem Bett zurück.
Carol betrat den Raum.
»Ich hätte Verständnis dafür«, sagte sie, »wenn du nicht über
die Sache reden willst.«
»Ich will drüber reden«, sagte Lisa. »Es war meine Schuld,
Mutter. Alles meine Schuld.«
»Das einzige, was du dir vorzuwerfen hast, ist, daß du Alex
zu der Party überredet hast«, sagte ihre Mutter. »Daß er sich
betrunken hat, dafür kannst du nichts. Auch nicht dafür, daß er
den Wagen in den Abgrund gesteuert hat.«
»Aber er hat den Wagen in den Abgrund gesteuert, weil er
mich nicht über den Haufen fahren wollte.«
»Er ist zu schnell gefahren, Lisa, das ist alles. Er hat den
Unfall verursacht, nicht du.«
»Und was ist, wenn er stirbt?«
Carol biß sich auf die Lippen. »Wenn er stirbt, werden wir
alle um ihn trauern. Aber davon geht die Welt nicht unter,
Lisa.«
»Carolyn Evans hat gesagt...«
»Carolyn Evans ist ein selbstsüchtiges, kleines Biest. Ich
weiß genau, was sie dir vorwirft. Sie behauptet, der Unfall
wäre nicht passiert, wenn du die Party nicht vorzeitig verlassen
hättest. Weißt du auch, warum sie das sagt? Es geht ihr gar
nicht um Alex. Sie ärgert sich grün und blau, weil durch den
Unfall das Geheimnis ihrer Party aufgeflogen ist. Übrigens war
Carolyn die einzige von deinen Freundinnen, die gestern nacht
nicht ins Medical Center gegangen ist, um sich nach Alex zu
erkundigen. Statt dessen ist sie zu Hause geblieben und hat
versucht, die Spuren der Party zu beseitigen.«
»Es ist mir egal, was Carolyn sagt. Ich fühle mich schuldig.«
Carol setzte sich zu ihrer Tochter aufs Bett und zog das
Mädchen in ihre Arme. »Ich weiß, was du durchmachst, mein
Kleines. Ich weiß auch, daß du drüber wegkommen wirst. Aber
ich wollte mit dir nicht über deine Schuldgefühle sprechen,
sondern über Alex.«
»Über Alex?«
»Genau. Was wirst du tun, wenn er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht?«
Lisa sah sie entgeistert an. »Du sagst das so, als ob die
Gefahr besteht, daß er ewig weiterschläft. Er muß wieder
gesund werden. Er muß, hörst du?«
»Damit du aufhören kannst, dich selbst zu bemitleiden?«
»Du bist unfair, Mutter!«
Carol schüttelte den Kopf. »Ich möchte, daß du mir jetzt
einmal gut zuhörst. Es gibt eine Chance, daß Alex die Folgen
des Unfalls überlebt. Es gibt auch eine Chance, daß er aus der
Bewußtlosigkeit wieder erwacht. Wenn es soweit ist, wird er
sehr viel Pflege, sehr viel Hilfe und Zuwendung brauchen.
Mehr, als seine Eltern ihm geben können. Ich will damit sagen,
Lisa, daß er dich braucht. Wenn du aber deine ganze Kraft
damit vergeudest, deine Schuldgefühle zu pflegen, wird nichts
übrigbleiben, was du Alex schenken könntest.«
»Was soll ich tun?« fragte Lisa.
»Zunächst einmal würde ich dir vorschlagen, daß du dich
zusammennimmst. Es könnte nämlich sein, daß Alex schon
sehr bald auf deine
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