Das Kind der Stürme
Bett. Wäre das möglich?«
Wieder dieses dünne, schmerzliche Lächeln.
»Gut«, sagte ich und nahm der Puppe ihren seltsamen Halsschmuck ab, denn ich wusste irgendwo tief in mir, dass ich meine kleine Begleiterin zwar diesem kranken Kind überlassen konnte, das sie mehr brauchte als ich, aber diese letzte Verbindung zu meiner Mutter nicht gehen lassen durfte. Ich steckte den Halsschmuck in eine Tasche meines Kleids und packte Riona neben Maeve unter die Bettdecke. Sie passte gut in die Ellbogenbeuge des Kinds, als gehörte sie dort hin. Der Ausdruck auf ihrem gestickten Gesicht schien beinahe wohlwollend.
»Denn jetzt werde ich dir eine Geschichte erzählen, und dann muss ich gehen. Möchtest du eine Geschichte hören?«
Ein sehr leises »Mhm«, das war alles, was sie zu Stande brachte. Muirrin setzte sich auf der anderen Zimmerseite ans Feuer, und eine der Frauen reichte ihr einen Becher. Sie starrte in die Flammen, als wäre sie plötzlich zu müde, um sich auch nur zu bewegen.
Was für eine Geschichte kann man einem Kind erzählen, das, wenn es sich im Zimmer umschaut, den Tod im Schatten warten sieht? Ich kannte viele Geschichten, aber keine schien richtig zu sein. Womit kann man ein kleines Mädchen amüsieren, während seine Haut sich zu einem verunstaltenden Narbengewebe verzieht? Wie hilft man ihr, stark im Herzen und klar im Geist zu bleiben, wenn man doch aus der tiefen Unruhe der eigenen Schuldgefühle sprechen muss? Ich spielte mit den Fransen, die unter meinem Alltagstuch hervorhingen, seidig und sonnig, voller Erinnerungen an Unschuld. Das zarte, spitzenartige Muster kleiner Wellen, die in der winzigen, geheimen Höhle ans Ufer schlugen. Töne einer Melodie, die sich durch die stille Abenddämmerung wanden.
»Die Leute, mit denen ich hierher gereist bin, erzählen sich abends am Feuer viele Geschichten. Das tun sie, damit es ihnen nicht kalt wird. Die kleinsten Kinder sitzen ganz vorn, zusammen mit den alten Männern und Frauen, weil sie es am wärmsten haben müssen. Dann kommen die größeren Jungen und Mädchen und die Erwachsenen, die einen weiteren Kreis bilden. Und dahinter sind die Tiere. Hunde, die das Lager bewachen, und Enten und Hühner in kleinen Körben und die Pferde. Genug Pferde für einen schönen, großen, eigenen Kreis. Wenn diese Pferde sprechen könnten, hätten sie sicher auch die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Ein paar von diesen Geschichten sind großartig und edel, ein paar sind albern, und es gibt auch welche, die bewirken, dass man gleichzeitig weinen und lachen könnte. Ich werde dir eine Geschichte von einem Jungen und einem weißen Pony erzählen. Es ist eine ganz neue Geschichte. Du und Riona, ihr werdet die Ersten sein, die sie hören.«
Maeve seufzte leise und wandte mir den Kopf ein wenig mehr zu, als wollte sie nicht, dass ihr auch nur ein einziges Wort entging.
»Nun gut«, sagte ich, »dieser Junge gehörte also zum fahrenden Volk. Er war auf der Straße aufgewachsen. Daran war er gewöhnt. Für ihn gab es keine schönen Häuser, keine weichen Betten, keine Diener, die für ihn kochten oder wuschen, keine Bauern, die sich an seiner Stelle um die Tiere kümmerten oder auf dem Feld arbeiteten. Nur ein Wagen und ein paar Pferde und den Himmel und das Meer und den Weg, der sich vor ihm erstreckte und voller Abenteuer war. Er ließ sich nirgendwo lange nieder. Es liegt im Wesen des fahrenden Volks, dass sie immer unterwegs sein wollen.«
Maeve versuchte, etwas zu sagen. Ich beugte mich vor, um den leisen Hauch ihrer Stimme besser zu verstehen.
»… Name?«
Ich schluckte. »Sein Name war Darragh. Er reiste mit seiner Mutter und seinem Vater, seinen Schwestern und Brüdern, ein paar anderen Verwandten und seinem alten Großvater. Das waren recht viele Leute und noch mehr Pferde, denn mit Pferden verdienten sie ihren Lebensunterhalt: Sie fingen die wilden Ponys ein oder kauften sie billig und bildeten sie aus, damit sie zu guten Reitpferden wurden, und verkauften sie dann an der Kreuzung. An dieser Kreuzung gibt es den besten Pferdemarkt in ganz Erin.«
Es war sehr still geworden. Nicht nur das Kind war in die Geschichte versunken, sondern auch Muirrin hatte den Blick nun auf mich gerichtet, und die Dienerinnen hatten ihre Arbeit niedergelegt und sich auf eine Bank am Fenster gesetzt, um mir zuzuhören.
»Darragh konnte wirklich sehr gut mit Pferden umgehen. Er hatte etwas an sich, das man nicht recht beschreiben konnte, aber die Geschöpfe
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