Das Kind der Stürme
diesen Weg allein und unbeobachtet zurücklegen und vor dem Morgengrauen wieder in meinem Zimmer sein. Irgendwie musste ich die Meilen überbrücken, und ich musste ihn finden.
Ein großer Zauberer wie mein Vater hätte Magie benutzt und sich vollkommen verwandelt. Er wäre als flinker Hirsch über Wald und Wiesen geeilt oder auf starken Flügeln als Eule oder ein anderer Nachtvogel unterwegs gewesen. Theoretisch wusste ich, wie das ging. Aber Vater hatte mir verboten, es zu versuchen. Es war zu gefährlich. Es konnte passieren, dass man sich nicht mehr zurückverwandeln konnte. Es konnte passieren, dass man in der veränderten Gestalt für immer gefangen saß, oder noch schlimmer, zwischen der einen und der anderen. Und es erschöpfte einen, es nahm einem die Kraft. Dennoch, die Zeit verging schnell, und ich war beinahe verzweifelt genug, es zu versuchen. Mein Herz klopfte laut, mein Blut raste. Ich stand am Fenster, schaute in die Nacht hinaus und fragte mich, ob ich es wagen würde, die Grenze zwischen Frau und Vogel zu überschreiten, von einem an die Erde gebundenen, menschlichen Wesen zu einem geflügelten Geschöpf der Luft zu werden. Was, wenn ich versagte und vom Himmel fiel, um auf den Steinen drunten zu sterben? Aber wie sonst konnte ich rechtzeitig da sein?
Der Mond spähte zwischen den Wolken hervor. Eine Brise brachte die Hecke zum Rascheln, bewegte die kahlen Äste der alten Ulme, die den ordentlichen Beeten des Gartens und dem tintenschwarzen Fischteich Schutz spendete. Dort draußen, dicht an der Hecke, stand ein Pferd. Der Mond fiel auf das Schattengrau seines Fells und verlieh ihm die Farbe einer Perle. Vielleicht hielt die Göttin heute Nacht ihre Hand über mich. Ich bewegte mich, so schnell ich konnte. Ein dunkler Umhang, meine Stiefel in der Hand, um keinen Lärm zu verursachen. Dann ein Bannspruch. Nicht, um meine Gestalt zu verändern, jedenfalls nicht viel. Eine halbe Veränderung, nur eine Schattenwirkung, damit ich unentdeckt davonkommen konnte. Ich bewegte mich auf leisen Sohlen durch die Flure, vorbei an der Halle, wo Eamonn allein saß. Ich ging durch die Küchentür hinaus und duckte mich in eine Nische, als die Wachen auf dem Weg zu einem späten Abendessen und einem guten Bier lachend und scherzend vorbeikamen. Ich schlüpfte davon, bevor die nächste Truppe ihren Posten bezog. Ich folgte der Hecke, bis ich vor der kleinen Stute stand, auf der ich zuvor schon geritten war und die nun friedlich in der Nacht auf mich wartete und kein bisschen erschrak, als ich direkt vor ihrer Nase auftauchte. Wie war es ihr gelungen, aus dem Stall zu fliehen und unbemerkt hierher zu kommen? Vielleicht war sie ja ein Geschöpf der Anderwelt. War sie nicht schon viel älter als jedes andere Pferd und immer noch gesund und munter? Immerhin hatte sie einmal Liadan gehört, und es hieß, Liadan besäße Kräfte, die über das Übliche hinausgingen. Jedenfalls war die Stute hier, und sie würde mich tragen. Aber das löste noch nicht das Problem, wie ich auf ihren Rücken kommen und ohne Sattel und Zaumzeug reiten sollte, von der Frage, in welche Richtung ich mich bewegen sollte, gar nicht zu reden.
»Komm«, flüsterte ich. »Komm schon. Beeil dich.«
Nun bewegte sie sich von mir weg an der Hecke vorbei, verschwamm mit dem Schatten. »Warte.« Ich eilte hinter ihr her. An der Steinmauer, die verhindern sollte, dass die Schweine in den Küchengarten gerieten, blieb sie stehen.
»Gut«, murmelte ich. »Gut. Ich sehe, du weißt, um was es geht.« Ich zog meine Stiefel an, kletterte auf die Mauer und von dort auf den Pferderücken, wo ich verängstigt ohne Sattel und Decke, ohne Zügel und Zaumzeug hocken blieb. »Also gut«, sagte ich leise, »ich brauche alle Hilfe, die ich bekommen kann. Du wirst dich beeilen müssen. Du musst leise sein. Und du darfst mich nicht herunterfallen lassen. Verstanden? Und jetzt suche nach Aoife und Darragh.« Ich legte die Hand auf ihren Hals und wünschte mir intensiv, dass sie mich hörte, dass sie wusste, was sie tun musste. Das war wirklich dumm. Es war nicht ich, die einem Pferd etwas ins Ohr flüstern und es für ein Leben lang zum Freund gewinnen konnte. Es war nicht ich, zu der ein wildes Geschöpf nur aus Liebe zurückkehrte. Aber das graue Pferd hob den Kopf und spitzte die Ohren, und dann trug es mich stetig nach Westen, vorbei an der Hecke, über eine kleine Brücke, an den Nussbäumen vorbei und in die dunkle Nacht hinaus. Ich packte ihre Mähne mit beiden
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