Das Kind der Stürme
mich aufs Bett, um die Schuhe auszuziehen. »Warum?«
»Warum?« Liadan schien verblüfft. »Wie kannst du so etwas nur fragen, Fainne? Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie es für uns war, all diese Jahre von Niamh abgeschnitten zu sein? Ciarán hat uns nie auch nur in ihre Nähe gelassen. Nachdem er deine Mutter nach Kerry gebracht hatte, haben wir sie nicht mehr sehen dürfen. Ich konnte seine Beweggründe verstehen, aber ich war nie der Ansicht, dass es richtig war. Niamh war meine und Seans Schwester. Wir hatten sie gerne. Es war schrecklich zu hören, dass sie gestorben war, ebenso schrecklich, wie dich nicht sehen zu dürfen. Es ist ein Geschenk, dass du nun hier bist, Fainne. Ein Geschenk, das wir in unserer Achtlosigkeit beinahe verloren hätten. Wir werden früh am Morgen aufbrechen. Ich möchte nicht, dass du Eamonn noch einmal allein triffst.«
»Liebe«, sagte ich trostlos. »Warum sprechen alle ständig davon? Onkel Sean und Conor und die anderen haben nicht viel Liebe an den Tag gelegt, als sie Mutter von Sevenwaters wegschickten. Es lag auch nicht viel Liebe darin, einen Mann glauben zu lassen, er könne ein Druide sein, obwohl all die langen Jahre der Disziplin und Ergebenheit vergeblich gewesen wären. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Liebe gibt, und wenn, dann bewirkt sie nur Kummer und Trauer. Meine Mutter hat sich umgebracht. Sagt dir das nicht genug?« Ich hatte nicht vorgehabt, das auszusprechen. Ich hatte mich beherrschen wollen. Aber sie hatte mich zornig gemacht, als sie dort so hübsch und ordentlich saß und ihre glatten Willkommensworte von sich gab. Sah sie denn nicht, sah denn niemand hier, dass mein Vater und ich nie hierher gehören würden? Konnten sie nicht verstehen, was sie selbst angerichtet hatten?
»Du bist ihr sehr ähnlich«, sagte Liadan leise und sah mich mit diesen riesigen, seltsamen Augen an. »Viel ähnlicher, als du selbst begreifst, nehme ich an. Kannst du dich überhaupt an deine Mutter erinnern?«
Ich schüttelte den Kopf und war wütend auf mich selbst, weil ich zu viel gesagt hatte. Meine Disziplin hatte mich wieder einmal im Stich gelassen, und das in einem Augenblick, wo ich es mir am wenigsten erlauben konnte.
»Es ist eine Schande«, sagte sie. »Niamh konnte manchmal recht … schwierig sein. Barsch und beinahe verletzend. Sie hat es nie so gemeint. Sie war nur so voller Gefühle, es brach einfach aus ihr heraus, und manchmal war es eben zu viel. Du kannst Liebe nicht einfach so abtun, Fainne. Wenn du das tust, liegt das einfach nur daran, dass du noch nicht gelernt hast, sie zu erkennen. Niamh hat deinen Vater geliebt; sie hat ihn mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Sie hätte ihr ganzes Leben für ihn geändert, und schließlich hat sie es auch getan. Und er tat nicht weniger für sie. Deshalb ist es so schwer zu glauben.«
»Was?« Ich zog mein Nachthemd so schnell wie möglich über den Kopf, denn ich zog mich nicht gerne aus, wenn jemand anwesend war.
Liadan war nachdenklich geworden. »Dass sie ihrem Leben selbst ein Ende gemacht hat. Dass sie den Tod wählen würde. Ich habe einmal gehört, wie sie drohte, sich zu töten, als sie noch mit dem Uí Néill verheiratet war. Damals zweifelte ich nicht daran, dass sie es ernst meinte. Aber es zu tun, nachdem Ciarán sie zu sich geholt hatte, nachdem sie dich hatte … das kam mir immer unmöglich vor. Ich konnte es nicht verstehen. Sie wollte doch nur mit ihm zusammen sein und sein Kind haben. Sie hatte sich so danach gesehnt. Und sie hat dich innig geliebt, Fainne. Das weiß ich.«
»Das kannst du nicht wissen«, sagte ich tonlos. »Du hast mir selbst gesagt, dass du sie nicht wieder gesehen hast, nachdem sie zu meinem Vater gegangen war. Du kannst es nicht wissen.« Ich legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke.
»O je«, sagte Liadan, und es klang, als wäre sie zwischen Lachen und Tränen hin und her gerissen. »Wir haben das offenbar auf dem falschen Fuß begonnen. Verzeih mir, aber ich muss mich einmal kneifen, um nicht zu vergessen, dass du es bist, die da liegt, und nicht meine Schwester, denn genauso hat sie sich immer verhalten, wenn sie böse auf mich war.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, du hättest sie gern gehabt.«
Liadan seufzte. »Alle haben sie gern gehabt, Fainne. Sie war wie ein wunderbares Sommergeschöpf, liebreizend, fröhlich und voller Leben. Was geschehen ist, hat sie schrecklich verändert. Ihr ist großes Unrecht angetan worden, ihr und
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