Das Kind der Stürme
meiner Mutter gespielt«, sagte Liadan leise. »Es war die schönste Musik, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe, und die traurigste. Dieser Mann ist bestimmt der beste Dudelsackspieler in ganz Erin.«
»Darragh ist noch besser«, sagte ich, bevor ich mich bremsen konnte. Ich hob die Hand, um das Amulett zu berühren. Ich durfte nicht von ihm sprechen. Er war weg. Vergessen. Ich musste ihn aus meinen Gedanken verbannen, so dass auch Großmutter nicht den geringsten Grund hatte, überhaupt an ihn zu denken.
»Tatsächlich?«, sagte Liadan lächelnd. »Dann muss er wirklich ein guter Musiker sein.«
Aber ich antwortete nicht, und dann ritten wir schweigend weiter, umgeben von unserer seltsamen Eskorte, die uns wie wachsame Schatten begleitete.
Es geschah am zweiten Tag. Wir hatten in einem der abgelegeneren Dörfer meines Onkels Rast gemacht, und ich hatte den Schlafplatz mit den Mädchen geteilt. Das gefiel mir besser. Ihr unaufhörliches Schwatzen konnte nervtötend sein, aber alles war besser als ein weiteres dieser seltsamen Gespräche mit meiner Tante, bei denen sie offenbar viel mehr verstand, als ich in Worte fassen konnte. Mir war klar, dass ich weitermachen musste, wie ich angefangen hatte, mir war klar, was ich Eamonn versprochen hatte, und daher wollte ich mich auf keinen Fall mit Liadan anfreunden oder ihr irgendwelche Geheimnisse anvertrauen. Tatsächlich war es Zeit, alle Freundschaft beiseite zu schieben und mich auf das zu konzentrieren, was notwendig war. Das durfte ich nicht vergessen. Ich musste stark sein; ich würde stark sein, denn schließlich hatte Vater mich in der Selbstdisziplin geschult, und er war ein Ausbund an Selbstbeherrschung.
Wir ritten über einen schmalen Pfad am Rand eines waldigen Tals. In der Nacht hatte es geschneit, und die Kiefern hatten immer noch weiße Kristalle auf ihren dichten Zweigen und Nadeln. Seans Hunde eilten voraus und hinterließen eine säuberliche Doppelspur. Es war ein stiller Tag, der Himmel eine Masse schwerer, tief hängender Wolken. Das und die dicht stehenden Bäume bewirkten, dass ich mich wieder einmal fühlte wie in einem Käfig. Mürrisch ritt ich weiter und versuchte irgendwo in meinen Gedanken ein klares Bild der Höhle zu finden, der Möwen, die am offenen Himmel segelten und der Luft, die nach salziger Gischt roch. Ich wollte das Rauschen des Meeres an den Felsen der Honigwabe hören. Aber ich sah nur das Gesicht meines Vaters, ausgemergelt und bleich, und alles, was ich hören konnte, war sein mühsames Ringen nach Atem, wenn er in seinem verwüsteten Arbeitszimmer gequält vor sich hin hustete und würgte.
Unsere Pferde setzten die Hufe äußerst vorsichtig. Der Weg war recht schmal, und für einige Zeit zog sich der Abhang rechts von uns steil nach oben, und auf der linken Seite ging es ebenso steil abwärts. Man konnte deutlich sehen, dass es hier öfter zu Steinschlag und Gerölllawinen kam. Drei der maskierten Männer ritten voraus, dann kam Onkel Sean, gefolgt von Clodagh und Sibeal. Ich war die Nächste, die anderen ritten hinter mir. Es war nur gut, dass mein kleines Pferd ein so bemerkenswertes Geschöpf war, denn ich war immer noch keine gute Reiterin. Diese sanfte Stute jedoch kannte ihren Weg, und ich konnte mich darauf verlassen, dass sie mich sicher weitertrug. Ich verdankte ihr viel; ich hatte sie erschöpft, hatte sie viel zu weit getrieben, und immer noch trug sie mich willig. Wenn wir nach Hause kamen, würde ich dafür sorgen müssen, dass sie Ruhe und Pflege bekam und alles was Pferde gern hatten, Äpfel oder Möhren.
Es geschah ganz plötzlich. Es war schwer zu sagen, was es war: ein Vogel oder eine Fledermaus oder vielleicht auch etwas Unheimlicheres. Es kam aus dem Nichts, bewegte sich flink wie ein Pfeil, schoss vollkommen lautlos abwärts und wieder nach oben und war beinahe verschwunden, bevor ich die Zeit hatte, es zu sehen. Mein Herz klopfte erschrocken. Die Stute zitterte und blieb stehen. Aber vor uns, wo der Schatten vorbeigezuckt war, scheute Sibeals Pony, bäumte sich auf, und sie wurde abgeworfen. Es gab keine Zeit nachzudenken. Ich sah, wie sie durch die Luft flog, auf den felsigen Abhang links von uns zu. Ich hörte Deirdres Schrei hinter mir. Die Magie erfüllte mich, obwohl ich kaum wusste, dass ich sie heraufbeschworen hatte. Die langen Jahre der Übung dienten mir nun gut. Halt. Das Kind hing plötzlich mitten in der Luft, kaum drei Handspannen über einem zerklüfteten Felsen, auf den ihr
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