Das Kind der Talibanfrau
einem Erschießungskommando stehen, als eine Frau singen zu hören.
Seitdem haben sich Abgeordnete, Generäle und Geistliche mit dem weiblichen Gesang beschäftigt. Israels Oberrabbiner hat ein achtseitiges Religionsgutachten vorgelegt, demzufolge die Armee das Singen von Frauen verbieten müsse, wenn religiöse Soldaten zuhörten. Ein Abgeordneter der »Partei der sephardischen Tora-Wächter«, kurz Schas, will künftig religiösen Soldaten Ohrstöpsel zur Verfügung stellen.
Die Schas-Partei wird angeführt von dem 91-jährigen Rabbi Ovadia Josef, der seine Sätze gern mit Ohrfeigen unterstreicht. Sein Sohn, ebenfalls Rabbi, ist ernsthaft der Ansicht, Frauen dürften nicht Auto fahren. Der Schas-Führer ist kein Außenseiter, er ist einer der mächtigsten Männer Israels und seine Partei seit zwei Jahrzehnten an fast jeder Regierung beteiligt, auch an der derzeitigen. Selbst Premierminister bücken sich vor ihm, wenn sie seine Zustimmung zu Krieg und Frieden einholen.
Israel ähnelt in vielem schon jetzt mehr Iran als Europa. Es ist ein Land, in dem es keine Zivilehe gibt, wo Rabbis über Hochzeit und Scheidung bestimmen. Wo strenggläubige Schüler weder Mathematik noch Englisch lernen. Wo jeder Kindergarten und jedes Kampfbataillon einen Rabbi hat. Ein Land, wo ein Infrastrukturminister die Kraftwerke des Landes unter die Oberaufsicht der Rabbiner stellen will, damit auch der Strom den göttlichen Reinheitsgeboten folgt.
Das alles gibt es seit Jahrzehnten, aber immer öfter sind es jetzt radikale Fromme, die entscheidende Positionen besetzen und damit der säkularen Mehrheit ihren Stempel aufdrücken.
Die Politiker taten lange nichts. Sie gaben den religiösen Koalitionspartnern stetig mehr Geld und Wohnungen für deren ultraorthodoxe Klientel. Ansonsten überließen sie die Frommen sich selbst – und damit den Extremisten.
Deswegen geben jetzt Männer wie Joelisch Kraus, 38, den Ton an. Kraus gehört zu den Israelhassern der Neturei Karta. Er wohnt in Mea Schearim, mitten in Jerusalem, und doch in einer Parallelgesellschaft des 19. Jahrhunderts. Er saß nie vor einem Fernseher, besitzt keinen Ausweis, spricht Jiddisch, und wenn er Bus fährt, dann nur mit einem, der nicht zur staatlichen Firma Egged gehört. Das einzige Problem ist der Müll. Joelisch Kraus hat es gelöst, indem er seinen Müll in die Tonne des Nachbarn wirft. So ist er unabhängig vom Staat und der Staat von ihm, er zersetzt ihn langsam von innen, indem er ihm seine Beteiligung entzieht. So soll es sein, findet er, denn bis Gott den Messias schickt, sollten Juden im Heiligen Land nicht herrschen.
Es ist früher Abend, Kraus ist gerade vom Torahstudium zurückgekehrt. Sein Sohn springt ihm auf den Schoß und zieht an seinen Schläfenlocken; seine Frau kehrt mit einem riesigen Besen den Müll des Tages in der Zweizimmerwohnung zusammen. Sie haben 13 Kinder. Sieben schlafen im Elternbett, zwei auf der Fensterbank, die anderen auf dem Boden.
Was sind die Aufgaben einer Frau? Er blickt ratlos. »Nun ja, sie soll zu Hause sein, all das tun, was eben getan werden muss, Kinder bekommen, sie erziehen, die Wäsche machen. Das ist ihre Rolle«, erklärt Kraus mit der sanften Freundlichkeit des Grundsatztäters. Und sonst? »Das ist alles.«
Damit das so bleibt, betreibt Kraus seinen Feldzug gegen die Moderne, damit die Frauen nicht eines Tages Bildung und Arbeit anstreben – und die Welt der Religiösen aus dem Gleichgewicht bringen. Es ist kein Zufall, dass der Kulturkampf gerade jetzt ausgefochten wird, wo immer mehr Fromme teilnehmen an Armee und Arbeitsleben, trotz aller Verbote der Rabbis.
Mea Schearim ähnelt in diesen Wochen dem gallischen Dorf, das sich gegen die Römer wehrt, und Joelisch Kraus ist der Asterix. Die Römer, das sind die Vertreter des Staates und die Säkularen. Joelisch Kraus und seine Glaubensbrüder teilen bei religiösen Festen die Straßen auf, eine Seite für Frauen, eine für Männer, sie würden das am liebsten auch im Alltag tun. Sie haben so lange die nichtsegregierten Busse in Mea Schearim mit Steinen beworfen, bis Egged den Verkehr einstellte, über ein Jahr lang. Jetzt fahren sie wieder, mit Polizeieskorte.
»Die Nichtreligiösen haben Jerusalem längst verloren. Sie haben zwar einen säkularen Bürgermeister, aber sie bilden sich nur ein, dass sie regieren.« Kraus lacht, er hat Zeit, er kennt die Geburtenstatistik. Er sagt: »Wir regieren Jerusalem.«
© SPIEGEL 2/2012
Glossar
Admor Name für den
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