Das Kind der Talibanfrau
Kindern den Willen auf, dass sie das wollen«, sagt Silverstein.
»Seit Jahrzehnten reden die männlichen Anführer der Ultraorthodoxen von nichts anderem als Sittsamkeit«, sagt die Soziologin Tamar El Or von der Hebräischen Universität. »Worum es auch geht, immer werden die Frauen über Moral belehrt, selbst die Frömmsten müssen sich morgens, mittags und abends anhören, wie sie mit ihrer Weiblichkeit die Sünde über die Männer bringen.« Die Länge der Röcke wurde zum Goldstandard, und jede Extralage Stoff galt als Annährung an Gott. »Manche Frauen haben angefangen, es exzessiv zu betreiben. Das ist wie beim Schlankheitswahn.« Die Tugendobsession sei gleichzeitig auch eine Rebellion gegen die Ehemänner und Rabbis, die Frauen definierten ihren Körper und ihre Gläubigkeit selbst.
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Situation in Israel hat der Anwalt Yair Nehorai ein Buch geschrieben. Das Kind der Talibanfrau basiert auf einer wahren Geschichte. Nehorai ist selbst nicht religiös, vertritt aber fast alle Religiösen, die Probleme mit der Staatsgewalt haben. Da ist der Fromme, der eine Soldatin, die vorn bei den Männern im Bus saß, als »Hure« beschimpft haben soll. Da sind die Jeschiva-Studenten aus Beit Schemesch, die Schlagzeilen damit machten, dass sie Schülerinnen einer religiösen Mädchenschule anspuckten, weil ihre Röcke nur knapp über das Knie reichten. Oder die Sikrikim genannten Moralwächter, die so lange einen Buchladen mit Fäkalien beschmissen, bis er sich ihrem Sittendiktat unterwarf.
So viel wie derzeit hatte der Anwalt noch nie zu tun. »Es gibt einen extremistischen Trend in der ultraorthodoxen Gemeinde«, sagt er. »Früher waren diese Radikalen eine sehr kleine Gruppe, jetzt werden sie wichtiger.« Viele Religiöse seien zwar gegen den Tugendterror der Eiferer, aber die wenigsten trauten sich, öffentlich dagegen aufzubegehren.
Synagogen und religiöse Schulen sind schon lange nach Geschlechtern getrennt. Aber vor einigen Jahren fing es in den Bussen an. Zunächst war eine Buslinie »koscher«, bald saßen auf über 60 Strecken Männer vorn und Frauen hinten. Der Staat tat nichts, bis eine Frauenorganisation vor den Obersten Gerichtshof zog. Der entschied vor einem Jahr, die Sitzordnung sei nur erlaubt, wenn sie freiwillig sei. Ein Urteil, dem man den Unwillen anmerkt, im Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen eindeutig Stellung zu beziehen.
Öfter als früher sind in orthodoxen Vierteln auch Supermarktkassen, Klinikwarteräume und Hochzeitsfeiern getrennt – freiwillig, und doch die Norm. Aber die Geschlechtertrennung bleibt nicht in den Vierteln der Haredim, der Gottesfürchtigen, sie breitet sich aus.
In Jerusalem sind die Frauen von den Werbeplakaten verschwunden. Schwimmbecken an der Universität haben getrennte Öffnungszeiten. Beerdigungsinstitute verbieten Frauen, Trauerreden zu halten. Bei einer Preisverleihung des Gesundheitsministeriums durften die ausgezeichneten Forscherinnen nicht auf die Bühne, der Vizeminister ist ultraorthodox.
Es gibt jetzt Aktionen gegen die Haredisierung der Öffentlichkeit: Frauen singen auf der Straße, sie weigern sich, im Bus hinten zu sitzen. Zu einer Demonstration gegen die Radikalen von Beit Schemesch kamen einige tausend Menschen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass all das den Trend umkehren kann.
Denn es geht um einen Kulturkampf, der seit der Staatsgründung gärt, weil bis heute ungeklärt ist, was Israel eigentlich sein soll: eine Theokratie für Juden? Oder ein demokratischer Nationalstaat? Es sieht so aus, als könnten die Orthodoxen diesen Grundsatzstreit für sich entscheiden.
Sie sind zwar mit einem Bevölkerungsanteil von rund zehn Prozent eine Minderheit, aber ihre Geburtenrate ist fast dreimal so hoch wie die der Säkularen. Bleibt das so, werden die Haredim in weniger als 50 Jahren ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Ein Viertel der jüdischen Erstklässler ist bereits ultraorthodox. Dazu kommt, dass 40 Prozent der Abgeordneten der Regierungskoalition und 40 Prozent der neuen Armeeoffiziere und der Soldaten in Kampfeinheiten orthodox sind. Damit haben die Religiösen überproportional viel Einfluss. Sie nutzen ihn.
Selbst in der Armee werden Frauen jetzt seltener in Einheiten mit Frommen versetzt. Vor einigen Monaten verließen religiöse Offiziersanwärter eine Feier, bei der Frauen sangen, weil das zu unreinen Gedanken führen könne. Ein einflussreicher Rabbi sagte danach, er würde lieber vor
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