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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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es ein langer Weg zu sein. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken. Pwyll streckte die Hand nach ihr aus. Sie nahm sie und ließ sich auf Deck helfen. Es hielt ihrem Gewicht stand, aber wenn sie hinabschaute, konnte sie bis auf die unteren Planken hindurchsehen. Die Wellen spülten durch den Rumpf des Schiffes. Schnell blickte sie wieder auf.
    Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, aber der Mond und die Sterne schienen heller. Amairgen kam ihnen nicht näher. Er ging zur Ruderpinne, und ohne sichtbare Hilfe brachte er das Schiff in Richtung auf die Anlegestelle.
    Niemand war sichtbar, aber ringsumher hörte Jaelle jetzt Schritte, dann das Knattern der zerrissenen Segel, die sich plötzlich füllten, obwohl sie noch immer keinen Atemzug von Wind spüren konnte.
    Es waren dünne Stimmen, ein Faden von einer Art Gelächter … dann segelten sie zum Anor. Auf das Land blickend konnte sie feststellen, dass die anderen alle erwacht waren und in Schweigen warteten. Sie fragte sich, ob sie für alle sichtbar wären und wie sie und Pwyll wohl aussahen, wenn sie hier oben standen, ob sie selbst ebenfalls Geister geworden waren. Und sie überlegte, wie die am Ufer Versammelten wohl aussehen würden, wenn sie dieses Schiff beträten, falls dies jemals geschehen sollte.
    Worte schienen überflüssig zu sein. Diarmuid hatte mit beunruhigender Schnelligkeit bereits begriffen, was geschah.
    Amairgen lenkte sein Schiff behutsam vor Lisens Turm, was ihm in seinem sterblichen Leben, wie Jaelle wusste, niemals zu tun vergönnt war. Sie blickte zu ihm hinüber, konnte aber in seinem Gesicht nichts lesen. Sie fragte sich, ob sie sich das Lächeln, das sie von unten her gesehen zu haben glaubte, nur eingebildet hatte. Aber für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit mehr. Schon kamen die ersten über den Landungssteg herauf über die Reling, in ihren Augen standen Furcht und Staunen in jeweils verschiedenem Maße. Sie und Pwyll halfen ihnen. Zuletzt kamen Sharra, dann Guinevere und Arthur und ganz zum Schluss Diarmuid dan Ailell. Er sah auf Pwyll, und dann schwenkten seine blauen Augen zu Jaelle hinüber, und er hielt sie mit einem langen Blick fest. »Nicht viel von einem Schiff«, murmelte er schließlich, »aber ich gebe zu, dass auch alles sehr schnell ging.«
    Sie stand zu sehr unter Spannung, als dass sie an eine Erwiderung auch nur denken konnte. Dazu gab er ihr auch keine Gelegenheit. Er beugte sich geschwind und küsste ihre Wange – was ihm keinesfalls erlaubt war – und sagte: »Sehr leuchtend gewoben, Erste der Dana. Alle beide.« Und er ging hinüber und küsste auch Pwyll.
    »Ich wusste nicht«, bemerkte Pwyll trocken, »dass du so etwas so anregend findest.«
    Und das, entschied Jaelle dankbar, reichte auch für ihre Antwort.
    Jetzt befanden sich alle an Bord, sie waren still inmitten der Schritte unsichtbarer Seeleute und der Füllung der Segel, die viel zu zerrissen waren, um sich füllen zu können, in einem Wind, den niemand von ihnen spüren konnte.
    Jaelle wandte sich um und sah, dass Amairgen langsam auf Arthur zuging und dabei den Speer in seinen Händen wiegte. Noch etwas musste getan werden, erkannte sie.
    »Seid willkommen«, begrüßte der tote Magier den Krieger. »Sofern die Lebenden hier willkommen sein können.«
    »Sofern ich am Leben bin«, antwortete Arthur ruhig.
    Amairgen sah ihn einen Augenblick lang an, sank dann auf einem Knie nieder. »In dieser Welt musste ich einen Gegenstand bewahren, der Euch gehört, Herr. Wollt ihr den König-Speer aus meinen Händen annehmen?«
    Sie fuhren aufs Meer hinaus, umrundeten die Krümmung der Bucht und bogen unter den Sternen nach Norden ab.
    Sie hörten Arthurs schlichte Worte: »Ich will ihn annehmen.« Und seine Stimme trug die Tone und Zwischentöne von so vielen Jahrhunderten und so vielen Kriegen.
    Amairgen hob den Speer. Arthur nahm ihn, und als er es tat, blitzte der König-Speer einen blendenden Augenblick lang bläulich-weiß auf. Und in diesem Augenblick ging der Mond unter.
    Guinevere wirbelte jäh herum, als hätte sie ein Geräusch gehört. Schweigend blickte sie auf den Strand zurück und auf den Wald, der dahinter lag. Dann flüsterte sie: »O mein Geliebter, o mein innig Geliebter.«

 
Kapitel 9
     
    Als Flidais schließlich den Heiligen Hain erreichte, war der Kampf schon seit einiger Zeit in vollem Gange. Er musste feststellen, dass er als letzter angekommen war. Alle wandernden Geister des Waldes waren zugegen, umringten die

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