Das Kind des Schattens
drehte er sich um und stapfte aus dem Hain in Richtung Norden. Als er ein kurzes Stück gegangen war, hielt er an und blickte zurück, nur um ein Wunder zu sehen: Lancelot folgte ihm langsam auf dem dunklen und engen Pfad. Rings um ihn und von hoch oben ließen die mächtigen Bäume des Waldes von Pendaran in einer Nacht mitten im Sommer sanft ihre grünen Blätter fallen, um den Mann, der dort unten vorbeischritt, zu ehren.
Kapitel 10
Ein einziges Mal früher war er rot aufgeflammt, um auf diese Weise zu reisen; aber es war nicht in dieser, sondern in ihrer eigenen Welt gewesen: von Stonehenge nach Glastonbury Tor. Aber mit den Übergängen von einer Welt zur anderen war das nicht zu vergleichen gewesen. Zwischen den Welten herrschte eine Kälte und Finsternis, eine Zeit ohne Zeit, die zutiefst verwirrend war.
Es war anders. Als der Baelrath aufleuchtete, damit sie reisen könne, erschien es Kim, als berührte sie wirklich die Unermesslichkeit seiner Kraft … Und ihrer eigenen Kraft. Auge in Auge stand sie dem Nichts gegenüber. Und in diesen ergreifenden Sekunden war sie unfassbarer als irgendeine andere vorstellbare Magie, war sie Macha und der Roten Nemain näher als irgendeine andere sterbliche Frau, die jemals geboren worden war.
Nur einen Unterschied gab es: Tief in ihrem Herzen war das Bewusstsein verankert, dass diese beiden eben Göttinnen waren und ihr eigenes Sein durch und durch beherrschten. Sie aber? Sie war eine Sterbliche und nur das, und wurde vom Baelrath getragen ebenso sehr, wie sie ihn trug.
Und während sie das noch dachte, während sie ihren Ring trug und von ihm getragen wurde, bemerkte sie, dass sie zusammen mit Loren und Matt – drei Sterbliche im Strom der Zeit und eines dämmernden Raumes – auf eine deutlich fühlbare Schwelle hoch in der klaren Bergluft niedergingen. Vor ihnen erhoben sich zwei hohe, mächtige Tore, die mit komplizierten Mustern in blauem Thieren und schimmerndem Gold geschmückt waren.
Kim wandte sich nach Süden und sah die wilden, dunklen Berge von Eridu, die im Schatten verschwanden. Es war das Land, wo der Todesregen niedergegangen war. Über ihr ließ irgendein Nachtvogel einen langgezogenen, einsamen Schrei ertönen. Sie lauschte seinem Echo, das langsam hinwegschwand, und dachte an die Paraiko, die jetzt gerade in den menschenleeren Tälern und den Städten mit ihren hohen Mauern, die von der Pest verheert worden waren, die Toten einsammelten und Eridu reinigten. Sie wandte sich nach Norden. Ein Licht, das von hoch oben herabschimmerte, zog ihre Augen an. Sie blickte hinauf, weit hinauf: Hinter den großartigen Doppeltoren des Zwergenreiches lagen die Gipfel von Banir Lök und Banir Tal, auf denen die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne ruhten. Wieder sang der Vogel, es war ein langer, trillernder, absteigender Ton. Weit entfernt sah sie noch ein weiteres Schimmern, als sei es eine Antwort auf den abendlichen Glanz der beiden Gipfel, die sich über ihnen erhoben. In nordwestlicher Richtung zog der Berg Rangat alles überragend noch das letzte Licht auf sich.
Keiner von ihnen hatte gesprochen. Kim sah zu Matt Sören hinüber, und unwillkürlich krampften sich ihre Hände zusammen. Vierzig Jahre, dachte sie und blickte auf ihren Freund, der einstmals – und eigentlich noch immer – der echte König des Reiches war, das hinter diesen Toren begann.
Seine Arme waren ausgebreitet, seine Hände geöffnet, als wolle er jemanden günstig stimmen, es war eine Geste höchster Verletzlichkeit. In seinem Gesicht las sie so klar wie in einer Kalligraphie Zeichen der Sehnsucht, der Bitterkeit und heftigsten Kummers.
Sie wandte sich ab und begegnete Loren Silbermantels Blick. In ihm wiederum spiegelte sich die Last seines eigenen schwierigen und komplizierten Grames, seiner eigenen Schuld. Sie erinnerte sich und wusste, dass auch Loren es niemals vergessen konnte, wie Matt ihnen allen in Paras Derval von den Geschehnissen von Calor Diman erzählt hatte; und all die vierzig Jahre, in denen er dem einstigen Magier als Quelle dienstbar war, hatte er unablässig gegen diese Erinnerung in seinem Herzen gekämpft.
Sie wandte sich wieder den Toren zu. Noch in der Dämmerung konnte sie die feinen Verzierungen aus Gold und Thieren erkennen, es war sehr ruhig. Sie hörte den dünnen Klang eines Kieselsteines, der sich irgendwo gelöst hatte und herabfiel. Die Zwillingsgipfel waren nun dunkel, und dunkel war jetzt auch Calor Diman, der Kristallsee, der
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