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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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diese Reise machen würde.
    Sie saß jetzt – und hatte vorher gelegen – auf einem kleinen Bett, das mindestens 30 cm zu kurz für sie war. Das wiederum erinnerte sie daran, wo sie sich befand. Und dann kam noch eine weitere Erinnerung in ihr auf, und sie blickte hinab.
    Der Ring war weg. Diese letzte schreckliche Empfindung hatte sie nicht halluziniert. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Sie dachte an Kaen, der hier der Führer, wenn auch nicht der König war, an Kaen und seinen Bruder Blod, der den Wachtstein von Eridu zerbrochen, den Kessel von Kath Meigol gefunden und Maugrim übergeben hatte. Und jetzt waren sie im Besitz des Baelrath.
    Ohne den Ring fühlte Kim sich nackt, obwohl sie noch immer das Gewand mit dem Gürtel trug, das sie den ganzen Tag lang angehabt hatte, seit sie im Cottage aufgestanden war und Danen gesehen hatte. Den ganzen Tag? Sie wusste nicht einmal, welcher Tag heute war. Sie hatte keine Zeitvorstellung, aber das gedämpfte Licht, das von den Steinen ausging, hatte die Farbe des Dämmerlichtes. Sie dachte darüber nach und fragte sich auch, warum sie keine Tür wahrnehmen konnte. Sie wusste, dass die Zwerge unter ihren Bergen Wundersames mit Stein zu schaffen vermochten.
    Unter Kaen und Blod waren sie auch imstande, der Finsternis in einer Weise zu dienen, wie Maugrim es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie dachte an Lökdal und dann natürlich an Darien: Das war die ständige Angst, die allem zugrunde lag. Und diese Angst überwand die Übelkeit und den Schmerz und trieb sie dazu, sich zu erheben. Sie musste hier herauskommen! Zuviel geschah und zuviel hing von ihr ab!
    Als das Aufwallen ihrer Panik nachließ, wurde sie sich plötzlich bitter bewusst, dass ohne den Baelrath in Wirklichkeit nicht mehr viel von ihr abhing. Sie versuchte, aus der einfachen Tatsache, dass sie noch immer am Leben war, Mut zu schöpfen. Sie hatten sie nicht getötet, und in ihrem Raum gab es Wasser und ein sauberes Handtuch. Sie versuchte, aus der Anwesenheit dieser Dinge Kraft zu schöpfen: Sie versuchte es, und es misslang ihr, denn der Ring war verschwunden.
    Schließlich ging sie zu dem niedrigen Tisch hinüber. Sie nahm einen tiefen Schluck Wasser – durch irgendeine Eigenschaft des Steinbeckens war es kühl geblieben – und wusch sich. Die Kälte stieß sie in ein atemloses Wachbewußtsein. Sie betastete ihre Wunde: Es war eine große Quetschung, die sich sehr weich anfühlte, doch war die Haut nicht eingerissen. Dafür immerhin konnte sie dankbar sein.
    Die Dinge geschehen eben, hatte ihr Großvater in den Tagen nach dem Tod ihrer Großmutter gesagt. Wir müssen weiterkämpfen, waren seine Worte. Sie biss die Zähne zusammen. In ihre grauen Augen kehrte eine gewisse Entschlossenheit zurück. Sie setzte sich auf den Sessel, legte ihre Füße auf den Schemel und richtete sich darauf ein, in düsterer Bereitschaft zu warten. Währenddessen wurde die Farbe des Lichtes, das sie umgab, allmählich heller, dann noch heller; durch Kunstfertigkeit oder Magie oder eine Mischung aus beidem fand das steigende Licht der Morgenstunden außerhalb der Berge ein Echo im Schimmern der Steine, innerhalb der Steine.
    Eine Tür öffnete sich. Oder vielmehr: Es erschien eine Tür in der Wand, die Kim gegenüberlag, und ging dann geräuschlos nach außen auf. Kim war bereits aufgesprungen, ihr Herz raste, und dann war sie plötzlich sehr verwirrt.
    Sie hätte niemals rational erklären können, warum die Anwesenheit einer Zwergenfrau sie so überraschen konnte, warum sie, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, angenommen hatte, dass die Frauen unter den Zwergen so aussehen würden wie … bartlose, gedrungene Gegenstücke von Kämpfern wie Matt und Brock. Aber schließlich hatte sie selbst auch nicht viel Ähnlichkeit mit Coll von Taerlindel oder Dave Martyniuk. Jedenfalls nicht, wenn sie einen guten Tag hatte!
    Und so war es auch bei der Frau, die gekommen war, um nach ihr zu sehen. Sie war einige Zoll kleiner als Matt Sören, aber schlank und anmutig mit weit auseinander stehenden dunklen Augen und schwarzem glatten Haar, das auf ihren Rücken herabhing. Trotz der feinen Schönheit dieser Frau spürte Kim in ihr dieselbe Stärke und Widerstandskraft, die sie auch bei Brock und Matt kennen gelernt hatte. Bewundernswerte, hochgeschätzte Verbündete konnten die Zwerge sein, aber auch sehr gefährliche Feinde.
    Trotz allem, was sie wusste, trotz des Schmerzes in ihrem Kopf und des Verschwindens des Baelrath,

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