Das Kind des Schattens
trotz der Erinnerung an das, was Blod Jennifer in Starkadh angetan hatte, und des grausamen Bewusstseins des Todesregens, der durch den Kessel ausgelöst wurde, war es trotzdem irgendwie schwierig, diese Frau als eingefleischten Feind zu sehen. Schwäche? Irrtum? fragte sich Kim und versuchte dennoch ein halbes Lächeln.
»Ich habe erwartet, dass jemand kommen würde«, sagte sie. »Ich bin Kimberly.«
»Ich weiß«, entgegnete die andere Frau, ohne das Lächeln zu erwidern. »Wir haben erfahren, wer du bist und was. Ich soll dich zu Seithrs Halle bringen. Dort versammelt sich das Zwergenvolk. Der König ist zurückgekehrt.«
»Ich weiß«, bemerkte Kim trocken und versuchte, die Ironie und ein rasches Aufsteigen der Hoffnung aus ihrer Stimme zu eliminieren. »Was geschieht hier?«
»Ein Zweikampf vor den Ältesten des Zwergenvolkes. Es wird ein Zweikampf mit Worten sein, der erste, der seit vierzig Jahren stattfindet. Zwischen Kaen und Matt Sören. Keine weiteren Fragen! Wir haben wenig Zeit!«
Kim konnte man so leicht nichts befehlen. »Warte!« gebot sie. »Sag mir, wen … wen du unterstützt?«
Die Zwergenfrau sah mit ihren dunklen Augen zu ihr auf, aber ihr Blick verriet nicht, was in ihr vorging. »Keine weiteren Fragen, sagte ich.« Sie wandte sich um und ging hinaus.
Kim schob ihre Haare mit einer Hand zurück und beeilte sich, ihr zu folgen. Nach der Tür wandten sie sich nach links und folgten einer Reihe von aufsteigenden hohen Korridoren, die in demselben diffusen, scheinbaren Licht schimmerten, das ihren Raum erhellt hatte. An den Wänden waren wunderschön gestaltete Fackelleuchter angebracht, doch brannten die Fackeln nicht. Also war es jetzt Tag, folgerte Kim; die Fackeln wurden wahrscheinlich nachts angezündet. Die Wände waren nicht geschmückt, aber in bestimmten Abständen – ob sie nun zufällig oder durch irgendein Muster bestimmt waren, konnte Kim so schnell nicht erkennen – standen niedrige Pfeiler, auf denen jeweils feine und seltsame Kunstwerke aus Kristall ruhten. Die meisten davon wiesen abstrakte Formen auf, die das Licht der Korridore einfingen und reflektierten, einige aber waren auch gegenständlich: Sie sah einen Speer, der in einen Berg aus Glas eingebettet war, einen Kristalladler mit einer Flügelspanne von fast zwei Metern und an einem Knotenpunkt, wo sich viele Korridore trafen, einen Drachen, der von dem höchsten aller Podeste herabblickte.
Sie hatte keine Zeit, irgend etwas davon zu bewundern oder auch nur darüber nachzudenken. Auffallend war auch, dass die Gänge dieses Reiches unter den beiden Bergen so leer waren. Trotz der Breite der Korridore, die ganz offensichtlich den gleichzeitigen Durchgang einer großen Anzahl von Menschen erlauben sollten, begegneten sie und die Zwergenfrau nur einigen wenigen Männern und Frauen des Zwergenvolkes, und sie alle hielten auf ihrem Weg inne und starrten mit kalten, abweisenden Blicken zu Kimberly hinauf.
Wieder begann sie sich zu fürchten. Die meisterliche Kunst der Kristallskulpturen, die unaufdringliche Macht, die in den verschwindenden Gängen und ihrer Beleuchtung lag, die Tatsache überhaupt, dass ein Volk so lange Zeit unter den Bergen gelebt hatte … das alles führte dazu, dass Kim sich hier fremder fühlte als irgendwo sonst jemals in Fionavar. Und dazu noch war ihre eigene wilde Kraft von ihr gegangen. Sie war ihr anvertraut worden, eine Seherin hatte diese Kraft auf ihrer Hand geträumt und sie hatte sie verloren. Das Vellinarmband, das sie vor Magie schützte, hatten sie ihr jedoch gelassen. Sie fragte sich, warum. Waren Vellinsteine hier so verbreitet, dass es sich nicht einmal lohnte, sie wegzunehmen?
Auch das zu überdenken, blieb ihr keine Zeit, denn nun konnte sie nur mehr ehrfürchtiges Staunen empfinden. Ihre Führerin war in einen letzten Korridor eingebogen, Kim folgte ihr und stand nun in einem der riesigen Eingangsgewölbe zu der Halle, die nach Seithr benannt worden war, der während des Bael Rangat König gewesen war.
Selbst die Paraiko, dachte sie, geschweige denn sterbliche Menschen oder die Lios Alfar würden sich an diesem Ort klein vorkommen. Und bei diesem Gedanken wurde ihr immer klarer bewusst, warum die Zwerge ihre Versammlungshalle in dieser Größenordnung gebaut hatten.
Auf der Ebene, wo sie und ihre Führerin sich befanden, waren acht weitere Gewölbeeingänge zu dem kreisförmigen Raum in der Mitte und jeder von ihnen war ebenso hochragend und eindrucksvoll wie der, in dem sie
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