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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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von Wiesen umgeben hoch und verborgen zwischen den Bergen lag.
    Die ersten Sterne erschienen winzig fein im klaren Himmel. Kim sah auf ihre Hand hinab: Der Ring flackerte ruhig, die Aufwallung seiner Kraft war erschöpft. Sie suchte nach irgend etwas, das sie sagen könnte, nach Worten, die den Kummer dieser Schwelle zu mildern imstande wären, aber sie fürchtete, dass ein lautes Wort Gefahr bringen könnte.
    Außerdem beinhaltete dieses Schweigen ein Gefüge, ein gewobenes Gewicht, das sie selbst weder auf sich nehmen noch ablegen konnte. Es umfing die gesponnenen Lebensfäden der beiden Männer, die hier mit ihr waren, und mehr als das … Das lange vielschichtige Schicksal eines uralten Volkes der Zwerge von Banir Lök und Banir Tal.
    Trotz ihrer Zwillingsseele war dies mehr, als sie fassen konnte. Deshalb schwieg sie weiter und hörte, wie sich ein weiterer Kiesel löste, der Vogel noch ein weiteres Mal, jetzt aus größerer Entfernung sang. Dann schließlich begann Matt Sören zu sprechen, er sprach leise und blickte nicht um sich. »Loren, hör mir zu. Ich bedaure nichts. Nicht einen Atemzug, nicht einen Augenblick, nicht den Schatten eines Augenblicks. Das ist die Wahrheit, mein Freund, und ich schwöre es im Namen des Kristalles, den ich vor langer Zeit gefertigt habe, des Kristalles, den ich in jener Nacht, als der Vollmond mich zum König machte, in den See warf. Kein Webmuster auf dem Webstuhl konnte reicher sein als das, was sich um meinen Namen gerankt hat.«
    Langsam ließ er seine Hände sinken, während er noch immer die ehrfurchterregende Herrlichkeit der Tore vor sich hatte. Als er dann von neuem sprach, war seine Stimme rauer und noch leiser als vorher. »Aber ich bin … froh, dass die Fäden meiner Tage mich vor dem Ende wieder zu diesem Ort gebracht haben.«
    Kim liebte ihn, liebte sie beide, sie hätte gerne geweint. Vierzig Jahre, dachte sie wieder. Irgend etwas schimmerte in der Tiefe von Lorens Augen, schimmerte, wie die Zwillingsgipfel in den letzten Sonnenstrahlen geschimmert hatten. Sie fühlte den Wirbel eines Bergwindes auf der hohen Schwelle, hörte hinter sich das Geräusch eines rutschenden Kiesels.
    Sie drehte sich um, um zu sehen, aber da traf sie schon ein Schlag an der Schädelbasis und warf sie zu Boden.
    Sie spürte, wie ihr Bewusstsein hinwegglitt. Sie versuchte verzweifelt, sich daran festzuhalten, als ob es ein physisches Ding sei, das festgehalten werden konnte, das festgehalten werden musste. Aber sie wusste auch, dass es ihr nicht gelingen würde, und empfand Verzweiflung. Langsam schwand ihr Bewusstsein, in ihrem Kopf explodierte der Schmerz. Schwärze senkte sich hernieder. Sie hörte Geräusche. Konnte nichts sehen. Sie lag auf dem steinigen Plateau vor den Toren, und ihr letzter Gedanke war grausame Selbstironie. Wenige Augenblicke zuvor hatte sie sich noch mit den Kriegsgöttinnen verglichen, und trotz all der Anmaßung und trotz all der seherischen Gaben, mit denen Ysanne sie beschenkt hatte, war sie nicht imstande gewesen, einen einfachen Hinterhalt zu spüren.
    Das war ihr letzter Gedanke. Ihr letztes Gefühl jedoch, verbunden mit einem hilflosen Schrecken, der jenseits der Gedanken lag, war die Wahrnehmung, dass jemand den Baelrath von ihrer Hand nahm. Sie versuchte zu schreien, sich zu widersetzen, aufzulodern, aber dann schien ihr, als ob ein langsamer, breiter Fluss gekommen sei und sie in die Finsternis hinwegtrug.
     
    Sie öffnete ihre Augen. Der Raum schwankte und drehte sich. Der Boden senkte sich unter ihr in einer Weise, die ihr Übelkeit bereitete, und raste dann wieder vernichtend auf sie zu. Sie litt unter betäubenden Kopfschmerzen, und selbst wenn sie keine Hand bewegte, um sie zu betasten, wusste sie, dass sie an ihrem Hinterkopf eine riesige Beule hatte.
    Sie lag still und rührte sich vorsichtshalber nicht, wartete darauf, bis sie wieder zu sich kommen würde. Und das dauerte eine Weile.
    Schließlich setzte sie sich auf. Sie war allein in einem fensterlosen Zimmer, das von einem perlartigen und gnadenvoll sanften Licht erfüllt war. Sie konnte nicht erkennen, woher es kam: von den Steinwänden selbst, so schien es ihr, und von der Decke. Sie konnte auch keine Tür in diesem Raum sehen. In einer Ecke standen ein Sessel und ein Schemel. Auf einem niedrigen Tisch daneben ruhte ein Wasserbecken … was sie daran erinnerte, wie durstig sie war. Aber der Tisch schien ziemlich weit weg zu sein. Sie beschloss, ein wenig zu warten, bevor sie sich auf

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