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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Abendstern, und dann ging wenige Augenblicke später die Sonne unter.
    Und schon war Amairgen wieder bei ihnen, zuerst noch schattenhaft und durchlässig, aber als die Nacht vorrückte, wurde er deutlicher sichtbar. Er strahlte eine kalte Überheblichkeit aus, und sie fragte sich einen Augenblick lang, wie Lisen diesen Mann hatte lieben können. Dann aber erinnerte sie sich daran, wie lange er schon tot war und als ungeliebter und ungerächter Geist durch die einsamen und unermesslichen Meere wandern musste. Wahrscheinlich war er anders gewesen, vermutete sie, als er noch jung und am Leben war, als das schönste Kind von allen Welten des Webers ihn liebte.
    Als sie auf die stolze Gestalt des Ersten Magiers blickte, erwuchs in ihr ein Mitleid, das sie niemals hätte ausdrücken können. Später wurde es dann zu dunkel, als dass sie ihn im Sternenlicht deutlich hätte sehen können. Der Mond, der sich bereits dem Neumond näherte, stieg sehr spät auf.
    Sharra schlief einige Zeit, die meisten von ihnen taten es, denn sie wussten, wie wenig sie in den Tagen, die vor ihnen lagen, dazu kommen würden …, falls sie nicht für die Ewigkeit zur Ruhe geschickt würden. Lange vor der Dämmerung erwachte sie schon wieder. Der Mond stand über dem Strand in westlicher Richtung von ihnen. Auf ihrem Schiff gab es keine Beleuchtung. Andarien war eine dunkle verschwommene Linie im Osten.
    Wieder hörte sie Stimmen leise miteinander sprechen … es waren Amairgen, Diar und Arthur Pendragon. Dann verstummten diese Stimmen allmählich. Sharra erhob sich mit Diarmuids Mantel um ihre Schultern. Jaelle, die Hohepriesterin, trat neben sie, und beide sahen sie dann, wie der Krieger zum Bug des Schiffes ging. Dort stand er … und wie immer auch Cavall neben ihm … und mit einem Male stieß er seinen Speer in die Dunkelheit dieser Nacht empor, und das Blatt des König Speers strahlte blendend in bläulichem Weiß.
    Und in diesem Licht lenkte Amairgen Weißast sein Schiff in der Nähe der Mündung des Celynflusses an Land.
    An diesem süßesten aller Flüsse, die vom Celynsee an den verzauberten Grenzen von Daniloth vorbei in die Lindenbucht floss, verließen sie das Schiff und gingen durch das seichte Wasser an Land. Als letzter von allen verließ der, den sie Pwyll Zweimalgeboren nannten, das Schiff. Hoch über der schwankenden Strickleiter stand er noch an Deck und sagte etwas zu Amairgen, und der Magier antwortete ihm. Sie konnte nicht hören, worüber sie sprachen, spürte jedoch eine Gänsehaut, als sie auf sie hinblickte.
    Dann stieg Pwyll die Strickleiter herab, und so waren sie alle wieder auf dem Land beisammen. Hoch über ihnen stand Amairgen, eine stolze und strenge Gestalt in dem bleichen Schimmer des abnehmenden Mondes.
    Er sprach: »Hohepriesterin der Dana, ich habe getan, worum du mich batest. Werde ich der Gebete teilhaftig werden, die du mir versprochen hast?«
    Jaelle erwiderte ernst: »Ja, und selbst dann, wenn du uns nicht gefahren hättest. Ruhe jetzt in Frieden, unruhiger Geist. Ihr alle. Der Seelenverkäufer ist tot. Ihr seid frei. Möge an der Seite des Webers das Licht für euch leuchten.«
    »Und für euch«, fügte Amairgen hinzu, »für euch alle.«
    Wieder wandte er sich Pwyll zu und schien noch einmal etwas sagen zu wollen. Aber das geschah nicht mehr. Stattdessen erhob er beide Arme und entschwand dann unter den plötzlichen Rufen der Begeisterung, die seine unsichtbaren Matrosen ausstießen, in der Dunkelheit. Mit ihm löste sich auch sein Schiff ins Unsichtbare auf, die Schreie der Seeleute wurden von der Brise hinweggetragen, nur ein fernes Echo ihrer Stimmen aus so alter Zeit mischte sich in das Geräusch der Brandung.
    Von der Flussmündung aus begannen sie gegen Osten zu wandern, wo am nächsten Morgen die Sonne aufgehen würde, und Brendel von den Lios Alfar, der in dieser Gegend, die seiner Heimat so nahe war, jeden Schatten und Abhang kannte, führte sie an.

 
Kapitel 12
     
    »Ich werde nicht hineingehen«, entschied Flidais und wandte sich vom Nebel ab. Er blickte auf den Mann, der neben ihm stand. »Nicht einmal die Andain sind dagegen gefeit, sich in Ra-Lathens gewobenen Schatten zu verirren. Wenn ich nur die Worte finden könnte, dich zu überzeugen … so würde ich dich dringlichst bitten, nicht dort einzudringen.«
    Lancelot hörte ihm mit dieser immer so ernsthaften Höflichkeit zu, die sein Wesen so sehr ausdrückte. Seine Geduld schien so gut wie unerschöpflich. Er konnte einen dazu

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