Das Kind des Schattens
Nebeln des Schattenlandes verschlungen.
Aber ich habe es doch, dachte Flidais, ich habe gefunden, was ich suchte! Der Name sang in seinem Kopf, hallte in den Herzkammern wider. Er hatte ihn solange gesucht, und nun gehörte er ihm. Er hatte, was er brauchte.
Das erklärte aber noch nicht, wieso er an diesem Ort noch so lange wie angewurzelt stand und nach Norden in die dichten, undurchdringlichen Schatten blickte.
Erst als sie hinterher darüber nachdachte, verstand sie mit vollem Bewusstsein, dass es das gewesen war, wovor sie in ihrem Inneren immer auf der Hut war: Die schreckliche Gefahr, die auf sie wartete, sollte sie sich jemals verlieben.
Wie anders hätte man es erklären können, dass Leyse vom Schwanensiegel, die schönste und begehrteste von allen Frauen in Daniloth, die sogar von Ra-Tenniel selbst lange Zeit vergeblich umworben wurde, beschlossen hatte, sich all diese langen, langen Jahre solch einem Gefühl nie und niemals hinzugeben, auch wenn die Verlockung noch so süß sein sollte.
Wirklich, wie hätte man es anders erklären können?
Von den Lios Alfar war nur das Schwanensiegel nicht in den Krieg gezogen. Im Gedanken an Lauriel, nach der sie benannt waren, weilten sie gering an Zahl in Heiterkeit und Frieden im Schattenland und wanderten, seit Ra-Tenniel die Brüder und Schwestern aus den beiden anderen Siegeln auf die Ebene in den Krieg geführt hatte, allein und in Paaren durch die Nächte und Tage.
Leyse war eine von denjenigen, die alleine wanderten. Durch die Wasser des nach oben rauschenden Wasserfalls von Fiathai, ihrem Lieblingsplatz im Schattenland, hatte sie früh in der Morgendämmerung dieses milden Sommertages das gedämpfte Licht des Sonnenaufganges erblickt … doch alles Licht war hier gedämpft.
Ihr wirklicher Lieblingsplatz aber lag im Norden jenseits der Grenzen an den Ufern des Celynsees, wo man im Frühling den Sylvain sammeln konnte, wenn man gut darauf achtete, nicht gesehen zu werden. Doch dieser Platz war jetzt für sie verschlossen. Es war Kriegszeit, und sie durfte den Schutz des Nebels nicht verlassen.
Deshalb war sie stattdessen nach Süden zum Wasserfall gekommen und saß nun ruhig neben dem rauschenden Wasser, wie immer in Weiß gekleidet, und wartete auf den Sonnenaufgang.
Und so geschah es, dass sie, kurz bevor die Sonne aufging, einen sterblichen Mann nach Daniloth hereingehen sah.
Einen Augenblick lang krampfte sie sich in Angst zusammen, denn dies war seit sehr langer Zeit nicht geschehen, dann aber entspannte sie sich: Sie wusste, dass die Nebel ihn jeden Augenblick aufnehmen und der Zeit entreißen würden, so dass er niemand bedrohen könne.
Es blieb ihr ein kurzer Moment, um ihn anzuschauen. Sie nahm seinen anmutigen, etwas steifen Gang wahr, registrierte, dass er den Kopf hoch erhoben trug, sah sein dunkles Haar. Seine Kleider waren unbeschreiblich, sie waren blutbefleckt. Er trug ein Schwert um seine Hüfte geschnallt. Er erblickte sie von der anderen Seite der grünen, grünen Lichtung aus.
Aber darauf kam es nicht an. Noch lange bevor er die Lichtung überqueren und zu ihr hinschreiten konnte, würden die Nebel ihn verschlingen.
Aber das geschah nicht. Fast ohne zu denken, erhob sie ihre Hand. Sie sprach die Worte des Schutzes, so dass er wohlbehalten in seiner Zeit bleiben konnte. Und exakt genau dadurch schuf sie sich ihr eigenes Verhängnis, jenes Verhängnis, das ihr inneres Selbst in all diesen Jahren zu vermeiden versucht und stattdessen wie ein Festmahl auf dem Gras vorbereitet hatte.
Die Sonne ging auf. Ihr Licht glitzerte sanft und milde im Plätschern des nach oben gerichteten Wasserfalls. Es war wunderschön … wie immer.
Aber sie sah es kaum. Über den Grasteppich ging er auf sie zu, und sie erhob sich und stand mit Wassertropfen auf ihrem Haar, auf ihrem Gesicht, als er zu ihrem Platz kam. Sie wusste, dass ihre Augen nun kristallen waren. Die seinigen waren dunkel. Sie hätte eigentlich wissen können, wer er war, noch bevor er seinen Namen aussprach, so dachte sie später. Es wäre möglich gewesen. Denn das Bewusstsein hatte selbst hier in Daniloth ebenso viele Schlingen wie die Zeit. Sie hatte vergessen, wer ihr das gesagt hatte.
Der hochgewachsene Mann kam auf sie zu, hielt vor ihr an und stellte sich mit äußerster tiefer und ernster Höflichkeit vor: »Guten Morgen, Herrin. Ich bin in Frieden gekommen und übertrete eure Grenzen nur, weil ich gar nicht anders kann. Ich muss Euch um Eure Hilfe bitten. Mein Name ist
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