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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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von den Schornsteinen auf. In einer reichen Skala von Gold- und Brauntönen reiften die Feldfrüchte, und die hohen, rötlich blühenden Solais wuchsen in großer Zahl.
    Als sie ihre Fahrt nach Norden fortsetzten und das Licht noch heller wurde, erblickte Sharra in größerer Nähe des Schiffes am Ufer einen Hafen, der in die lange Küstenlinie eingeschnitten war, und in diesem Hafen ankerten ungefähr zwanzig oder mehr buntbemalte Schiffe, von denen einige mit tiefen Laderäumen für Korn und Bauholz ausgestattet waren und hohe Masten trugen, während sich andere, kaum mehr als kleine Fischerboote, ins Meereswasser im Westen des Strandes wagten.
    Als die Ausrufe des Erstaunens immer lauter wurden, wurde auch Sharra mit einem Stich im Herzen gewahr, dass das größte der Schiffe auf seinem Hauptmast eine grüne Flagge mit gekrümmtem Schwert und rotem Blatt trug: Das war die Flagge von Reith, der westlichsten Provinz von Cathal.
    Daneben sah sie ein weiteres großes Schiff, das die Flagge von Brennin mit der Eiche und dem Sichelmond gehisst hatte. Und die Matrosen beider Schiffe winkten ihnen zu. Über die blitzende Wasserfläche hin konnte sie deutlich ihre Willkommensgrüße und ihr Lachen hören.
    An den Kais hinter den Schiffen regte sich schon jetzt am frühen Morgen geschäftiges Leben. Ein Schiff wurde gerade entladen, und mehrere andere nahmen die Fracht an Bord. Hunde und kleine Jungen streunten umher und standen allen im Wege. Jenseits der Docks erstreckte sich die Stadt in beiden Richtungen über den ganzen Küstenstreifen an der Bucht. Sharra konnte hell bemalte Häuser unter schrägen Schindeldächern erkennen. Vom Wasserrand her führten breite Straßen in die Stadt, und als Sharra der breitesten davon mit ihrem Blick folgte, entdeckte sie im Nordosten ein großes Herrenhaus, das von einer hohen Steinmauer umgeben war.
    Sie konnte es genau sehen, als sie am Eingang der Bucht vorbeisegelten, und sie wusste, dass diese Stadt Guiraut bei der Iorwethbucht sein musste.
    Aber diese Bucht war schon vor vielen hundert Jahren verlandet, und die Stadt Guiraut war von Rakoth Maugrim im Bael Rangat niedergebrannt und gänzlich geschliffen worden.
    Diese Stadt war so lebendig, so schön, und plötzlich bemerkte sie, dass sie sich anstrengen musste, um nicht in Tränen auszubrechen.
    »Diar, wie ist das geschehen?« fragte sie ihn. »Wo sind wir?«
    »Weit weit weg«, entgegnete er. »Wir segeln über das Meer, über das unser Schiff segelte, bevor es zerstört wurde. Und das war, nachdem Rakoth nach Fionavar gekommen war, aber noch vor dem Bael Rangat.«
    Seine Stimme war belegt.
    Sie drehte sich wieder zum Hafen zurück und versuchte zu begreifen. Diarmuid berührte ihre Hand. »Ich glaube nicht, dass es dort irgendeine unmittelbare Gefahr für uns gibt«, mutmaßte er. »Jedenfalls solange wir auf dem Schiff bleiben. Bei Sonnenuntergang werden wir zu unserem eigenen Meer und zu unserer eigenen Zeit zurücksegeln.«
    Sie nickte, ohne ihre Augen von den leuchtenden Farben des Hafens abzulenken. Nachdenklich sagte sie: »Siehst du dieses Schiff dort aus Reith? Und das kleinere dort drüben mit der Flagge von Cynan? Diar, mein Land existiert noch nicht einmal! Das sind die Schiffe der einzelnen Provinzen. Sie schlossen sich erst zu einem Land zusammen, nachdem Angirat aus dem Bael Rangat zurückgekehrt war.«
    »Ich weiß«, bestätigte er sanft, »wir blicken auf eine Welt, die vernichtet wurde.«
    Nun konnte sie die Klänge einer T’Rena erkennen, die vom Deck des Schiffes aus Cynan zu ihnen herüberklangen. Es waren hohe, süße Töne, sie kannte diese Musik, sie war mit ihr aufgewachsen.
    Aus dem Schmerz, der in ihrer Brust saß, wurde ein Gedanke geboren: »Können wir sie nicht warnen? Können wir nicht irgend etwas tun?«
    Diarmuid schüttelte den Kopf. »Sie können uns weder sehen noch hören.«
    »Wie meinst du das? Kannst du denn nicht ihre Musik hören? Und schau, sie winken uns zu!«
    Er verschränkte locker seine Arme, als er sich auf die Reling lehnte, aber die Anstrengung in seiner Stimme strafte seine Gelassenheit Lügen. »Meine Liebe, nicht uns winken sie zu. Sie sehen nicht diesen zerbrochenen Schiffsrumpf, sondern ein wunderschönes Schiff aus Brennin mit einer ausgewählten Mannschaft. Sie sehen Amairgens Matrosen, Sharra, sie sehen sein Schiff so, wie es aussah, bevor es nach Cader Sedat segelte. Ich fürchte, dass wir dagegen unsichtbar sind.«
    Nun verstand sie es schließlich. Sie setzten

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