Das Kind des Schattens
war. Sie war in Larai Rigal aufgewachsen, wo das Sonnenlicht auf den Wasserwellen glitzerte und die Blumen verschwenderisch blühten.
Das Meer schlug mit kaltem, unablässigem Klang, der im Nebel noch verstärkt wurde, gegen den Bauch des Schiffes. Sie blickte über die Reling, konnte aber nicht einmal den Wasserspiegel sehen. Und das war wohl auch richtig so. Ein Blick auf das Wasser, das durch die zerschmetterten Planken des Schiffes hereinrauschte, als sie an Bord stiegen, war genug gewesen. Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die drei Männer, hielt dann den Atem an und sah genauer hin. Es waren jetzt nur noch zwei. Arthur und Diar standen beieinander, neben ihnen der Hund, aber der Geist des Magiers war verschwunden. Und in diesem Augenblick bemerkte Sharra, dass die Dunkelheit im Osten sich lüftete. Sie spähte durch den grauen, dünner werdenden Nebel und konnte jetzt eine lange niedrige Landzunge erkennen. Das musste der Sennettstrand sein, sie kannte ihn aus den Erzählungen. In der Nacht hatten sie die Felsen von Rhudh passiert, und wenn ihr Geographielehrer in Larai Rigal die Wahrheit gesagt hatte und sie sich richtig erinnerte, würden sie an der Öffnung der Lindenbucht ankommen, bevor der Tag vorüber war, und die vereisten Fjorde und riesigen Gletscher sehen, die im Norden aufragten.
Und Starkadh: den Sitz von Rakoth Maugrim, der wie eine schwarze Kralle im Herzen der Welt des weißesten Lichtes saß. Sie wusste wirklich nicht, wie sie es schaffen würde, daraufhin zu blicken. Und das hatte ebenso sehr mit dem Eis wie mit allem anderen zu tun, erkannte sie, denn diese Welt des hohen Nordens war so überaus fremdartig für eine Frau, die in den sanften Jahreszeiten von Cathal und dem Schutz seiner Gärten aufgewachsen war.
Aber sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass sie nicht nach Starkadh oder irgendeinem Ort, der in der Nähe lag, segelten. Ihre Reise würde sie in der Lindenbucht wieder zurück nach Süden zur Mündung des Celynflusses führen. Dort, so hatte Diarmuid erklärt, würde Amairgen sie in der Dunkelheit der morgigen Nacht im Morgengrauen, wenn alles gut ginge, absetzen; dort würde diese merkwürdigste aller Seereisen enden. Aber es musste in der Dunkelheit geschehen, da Amairgen ja gewarnt hatte: Verlasst das Schiff um eures Lebens willen nicht bei Tageslicht.
Der Nebel lichtete sich weiter und jetzt immer schneller. Über sich konnte sie einen kleinen Fetzen blauen Himmels entdecken, schließlich noch einen, und dann trat die Sonne strahlend in den Himmel ein, der sich über Sennett und die Gegend dahinter spannte.
Und in diesem Augenblick bemerkte Sharra, die dem Morgen entgegensah, etwas Merkwürdiges am Strand.
»Diar!« rief sie und bemühte sich, die Angst aus ihrer Stimme zu halten.
Er stand noch immer an der Reling und sprach mit Arthur, und ganz bewusst hatte er eine Stelle an Deck ausgesucht, wo die Planken vollständig weggerissen waren. Er schien in der Luft zu schweben. Und sie wusste, auch wenn sie nicht nach unten blickte, dass das Meerwasser unter ihm wirbelnd durch den dunklen Bauch von Amairgens Schiff rauschte.
Er unterbrach das Gespräch und ging geschwind zu ihr hinüber. Arthur folgte ihm.
»Worum geht es?«
Sie hob die Hand und zeigte auf die Küste. Inzwischen hatte sich der Nebel vollkommen vom Wasser gelöst, überall strahlte das helle Licht eines Sommermorgens. Auf dem ganzen Deck ertönten Ausrufe des Staunens. Auch andere hatten es gesehen. Die Männer der Südfeste drängten sich an der Reling, und außer ihr zeigten noch viele andere in dieselbe Richtung.
Sie segelten an einer grünen und fruchtbaren Küste entlang. Der Sennettstrand war immer – wenn sie sich richtig an ihre Geographiestunden erinnerte – für die Fruchtbarkeit und den Reichtum seines Bodens bekannt gewesen, obwohl die Wachstumsperiode so hoch im Norden kurz war.
Aber wie Andarien jenseits der Bucht war auch Sennett zur Zeit des Bael Rangat zerstört worden, er war von einem Todesregen heimgesucht und dann noch von Rakoths Heeren in den letzten Tagen des Krieges, bevor Conary mit den Heeren von Brennin in Cathal nach Norden kam, verwüstet worden. So waren diese beiden einstmals so gesegneten Landstriche nun wüst und leer. Aber wie konnte dann das Wirklichkeit sein, was sie jetzt sahen? Eine buntgefleckte Decke von Feldern breitete sich unter dem Sommerhimmel aus, Bauernhäuser aus Stein und Holz waren über den Strand verstreut, der Rauch von Küchenfeuern stieg
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