Das Kind des Schattens
deshalb war auch das Schimmern der Wände verblasst. Jetzt flackerten die Fackeln in den Leuchtern, sie brannten ohne Rauch, Kim wusste nicht wie. Sie stand zusammen mit den anderen am Fuße der 99 Stufen, die zum Kristallsee hinaufführten, und in ihrem Herzen empfand sie ein Gefühl namenloser Angst.
Sie waren zu acht. Kaen hatte zwei Zwerge mitgebracht, die sie nicht kannte, außerdem waren sie und Loren zusammen mit Matt gekommen, und schließlich waren auch Niach und Ingen als Vertreter der Versammlung anwesend, um das Urteil des Calor Diman zu bezeugen. Loren trug einen Gegenstand, der in ein schweres Tuch eingewickelt war, und einer von Kaens Begleitern tat dasselbe. Es waren die Kristalle, die Früchte eines ganzen Nachmittages, der in feiner Handwerkskunst verbracht wurde. Es waren die Geschenke für den See.
Kaen hatte einen schweren schwarzen Umhang angelegt, der am Hals mit einer einzelnen Brosche zusammengehalten wurde, die in Gold und mit einer Ader von blauem Thieren gearbeitet war, das im Fackellicht blitzte. Matt war wie immer in Braun gekleidet und trug einen breiten Ledergürtel, Stiefel und keinerlei Schmuck. Kim blickte ihm ins Gesicht. Es war ohne Ausdruck, trotzdem aber schien es auf merkwürdige Weise lebhaft, durchblutet, es war fast, als glühe er. Niemand sprach. Auf ein Zeichen von Niach hin begannen sie emporzusteigen.
Die Stufen waren sehr alt, an manchen Stellen bröckelte der Stein, an anderen war er glatt geschliffen und schlüpfrig geworden, es war ein unübersehbarer Gegensatz zu der gepflegten, fein ausgearbeiteten Architektur, die sonst überall zu sehen war. Die Wände waren grob und roh, scharfe Ränder traten aus ihnen hervor, an denen man sich, wenn man nicht auswich, schneiden konnte. Es war schwierig, deutlich zu sehen. Die Fackeln warfen ebensoviel Schatten wie Licht.
Kim schien es, als ob diese primitive Treppe sie vor allem in die Vergangenheit führte. Sie war sich zutiefst bewusst, dass sie sich innerhalb eines Berges befand. Der Eindruck einer rohen Macht, die sich rings um sie drängte, wuchs beständig, es war die Kraft von Fels und Stein, von Erde, die sich aufwarf, um den Himmel herauszufordern. Sie sah ein Bild vor ihrem geistigen Auge: einen Kampf titanischer Kräfte, die mit Bergen aufeinander warfen, als seien es Wackersteine. Sie empfand das Fehlen des Baelrath mit einer Intensität, die an Verzweiflung grenzte.
Sie erreichten die Tür, die am oberen Ende der Treppe lag. Sie glich nicht jenen, die sie gesehen hatten, jenen kunstvoll gearbeiteten Eingängen, die aus den umgebenden Wänden herausgleiten und wieder in sie zurückrollen konnten, oder jenen hochgewölbten Bögen mit ihren vollkommen bemessenen Proportionen. Schon auf halbem Wege hatte sie erkannt, dass dieses Tor anders sein würde als die anderen. Es bestand aus Stein, war nicht besonders groß und mit einem schweren geschwärzten Eisenschloß verriegelt. Sie warteten auf der Schwelle, während Niach auf seinen Stab gestützt noch heraufstieg. Er zog einen eisernen Schlüssel aus seiner Robe und drehte ihn mit einiger Mühe langsam im Schloss. Dann fasste er den Handgriff und zog an. Das Tor öffnete sich und gab in dieser Öffnung den Blick auf den schwarzen Nachthimmel mit einigen glitzernden Sternen frei.
Schweigend gingen sie auf die Wiese des Calor Diman hinaus. In einer Vision auf dem Wege zu Ysannes See hatte sie ihn schon gesehen. Das hätte sie eigentlich darauf vorbereiten können. Doch das war nicht der Fall gewesen. Für diesen Ort gab es keine Vorbereitung. Die blaugrüne Wiese war eingebettet in der Mulde zwischen den Bergen wie ein zerbrechliches Ding von unendlichem Wert. Und wie die Wiese inmitten der sie umgebenden Gipfel lag, so wurden auch die Wasser des Kristallsees von der Wiese umschlossen. Das Wasser war dunkel, fast schwarz. Kim fragte sich mit leiser Furcht, wie tief und kalt es wohl sein mochte. Aber hier und da konnte sie auf seiner stillen Oberfläche ein Glitzern erkennen, der See reflektierte das Licht der frühen Sterne. Der abnehmende Mond war noch nicht aufgestiegen, sie wusste, dass Calor Diman leuchten würde, wenn sich der Mond über den Gipfel von Banir Lök erheben würde.
Und plötzlich hatte sie eine Vorstellung davon … nur eine Vorstellung, aber das war schon mehr als genug … wie fremdartig und schrecklich dieser Ort sein musste, wenn der Vollmond darauf herabschien und wenn der Calor Diman zum Himmel hinaufschien und ein unmenschliches Licht
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