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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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über die Wiesen und die Berghänge warf. Es war kein Platz für Sterbliche in einer solchen Nacht. Im Himmel und in den tiefen Wassern, in jedem schimmernden Grashalm, in den uralten, wachsamen und leuchtenden Bergketten würde der Wahnsinn liegen.
    Selbst jetzt im Sternenlicht war es nur schwer zu ertragen. Nie hatte sie erlebt, welch tödliche Gefahr Schönheit beinhalten konnte. Und da gab es noch etwas anderes, etwas Tieferes und Kälteres, so tief und kalt, wie der See selbst war. Während die Nacht dichter wurde und die Sterne heller zu leuchten begannen, wurde ihr in jeder Sekunde deutlicher bewusst, dass hier eine Magie ruhte, die darauf wartete, entfesselt zu werden. Über alle Worte hinaus war sie für den grünlichen Schutz des Vellinsteins dankbar: Es war Matts Geschenk gewesen, erinnerte sie sich.
    Sie blickte ihn an, ihn, der tatsächlich hier eine Nacht bei Vollmond verbracht hatte, der überlebt hatte und auf diese Weise zum König geworden war. Mit einem neueren, tieferen Verständnis sah sie ihn an, und er schaute zu ihr zurück, sein Antlitz war noch immer lebhaft, noch immer schien aus ihm die seltsame glühende Intensität. Er war nach Hause gekommen. Die Flut des Sees in seinem Herzen hatte ihn hierher zurückgezogen. Er brauchte diesem Sog nicht mehr länger zu widerstehen.
    Er war nicht mehr gezwungen zu kämpfen, er musste nur das Urteil ertragen. Und so viel stand hier zur Entscheidung, hier in dieser Senke inmitten der Berge, in nächster Nähe der Sterne. Sie dachte an das Heer der Zwerge jenseits der trennenden Bergketten. Sie hatte überhaupt keine Vorstellung, was sie tun könnte.
    Matt trat zu ihr. Mit einem kleinen Wink seines Kopfes bedeutete er ihr, ein wenig auf die Seite zu gehen. Zusammen mit ihm sonderte sie sich ein wenig von den anderen ab. Sie zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und vergrub die Hände in ihren Taschen. Es war sehr kalt. Schweigend blickte sie auf Matt hinab und wartete.
    Sehr leise sagte er: »Vor langer Zeit habe ich dich gebeten, einige von deinen Lobesworten für Ysannes See für den Augenblick aufzusparen, an dem du diesen Ort siehst.«
    »Er ist jenseits aller Schönheit«, erwiderte sie, »jenseits aller Worte, die ich aussprechen könnte. Aber ich habe große Angst, Matt.«
    »Ich weiß es. Auch ich. Wenn ich es nicht zeige, so ist es, weil ich meinen Frieden mit jedem möglichen Urteil des Sees gemacht habe. Was ich vor vierzig Jahren getan habe, tat ich im Namen des Lichtes. Trotzdem ist es vielleicht ein Akt des Bösen gewesen. Dinge dieser Art sind schon früher geschehen und werden auch wieder geschehen. Ich werde mich dem Urteil unterwerfen.«
    So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie fühlte sich gedemütigt in seiner Anwesenheit. Hinter Matt flüsterte Niach Ingen etwas zu und winkte dann Loren und Kaens Begleiter heran, die ihre in die Tücher gehüllten Kristalle trugen.
    Matt fuhr fort: »Ich glaube, es ist jetzt Zeit, und es könnte auch das Ende meiner Zeit sein. Aber zuerst habe ich noch etwas für dich.«
    Er senkte seinen Kopf und führte seine Hand zu der Binde über seinem verlorenen Auge. Sie sah, dass er sie anhob, und zum ersten Mal konnte sie einen Blick auf die dahinterliegende zerstörte Augenhöhle werfen. Dann fiel etwas Weißes heraus, und er fing es mit der Hand auf. Es war ein winziges Viereck aus weichem Tuch. Matt entfaltete es … nur um ihr den Baelrath zu zeigen, der in seiner Hand sanft schimmerte. Kim öffnete den Mund zu einem wortlosen Schrei.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte sich Matt. »Ich weiß, dass dich die Angst geplagt hat, wer ihn wohl an sich genommen haben würde, aber ich hatte keine Gelegenheit, mit dir zu sprechen. Ich habe ihn von deiner Hand abgestreift, als wir am Eingang nach Banir Lök angegriffen wurden. Ich dachte, es sei wohl das beste, wenn ich … wenn ich ihn nicht aus dem Auge ließe, bis wir den weiteren Verlauf der Dinge wissen würden. Verzeih mir.«
    Sie schluckte, nahm den Kriegsstein und legte ihn an. Er flammte auf ihrem Finger auf, dann beruhigte er sich wieder. Sie bemühte sich um den scherzhaften Ton, der ihr sonst so leicht gelang, und gelobte: »Von jetzt an bis zu dem Tag, an dem der letzte Faden auf dem Webstuhl gewoben wird, werde ich dir alles und jedes verzeihen; nur nicht dieses miserable Wortspiel.«
    Sein Mund verzog sich. Sie wollte noch mehr sagen, aber dazu war nun wirklich keine Zeit mehr. Es schien, dass sie einfach niemals genügend Zeit hatten. Niach

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