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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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etwas von beidem, er ging nur bis zu einer kleinen Baumgruppe am Ufer des Flusses in der Nähe des Sees. Dort wuchsen Weidenbäume und wunderschöne Blumen in silbrigen und roten Farben. Er kannte ihre Namen nicht. Er ließ sich an diesem Ort der Schönheit nieder, während die Dämmerung heraufzog … nach dem gedämpften Licht des Schattenlandes erschienen ihm diese Farben blendend hell … und er blickte über die wüste Einöde Andariens hin. Er schlang die Hände um die Knie, legte sein Schwert an die Seite, so dass er es nötigenfalls leicht erreichen konnte, und setzte sich zurecht, um mit Blick nach Westen zum Meer hin zu warten.
     
    Auch Leyse wartete, obwohl sie sich während der ganzen langen schweigenden Nachtwanderung gelobt hatte, dass sie nicht verweilen würde. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so nahe bleiben würde, und ihre Entschlossenheit fiel in sich zusammen, sobald er nicht mehr da war. Sie sah, wie er zu den Ulmen ging und sich dann inmitten des Sylvain niederließ. Es war ihr allerliebster Platz in der einen Welt, die sie kannte. Sie wusste, dass sie für ihn unsichtbar war, und auch ihr fiel es nicht leicht, durch die Nebelschwaden um sie her deutlich zu sehen. Trotzdem wartete sie, und um die Mitte des Nachmittages näherte sich dem Flussufer entlang eine Gruppe von etwa fünfzig Menschen.
    Sie beobachtete, wie er aufstand und dass die Ankömmlinge in kurzer Entfernung von ihm stehen blieben. Sie wurden von Brendel vom Kestrelsiegel geführt, und sie wusste, dass er sie erkennen würde, wenn er nach Süden blickte. Er tat es nicht.
    Er blieb bei den anderen und sah zu, wie eine blonde, sehr hochgewachsene Frau auf Lancelot zuging. Es schien Leyse, als lüfteten sich die Nebel in diesem Moment ein wenig … ob es ein Segen oder ein Fluch war, wusste sie nicht zu sagen … und sie hatte deutlich Lancelots Gesicht vor Augen, als Guinevere auf ihn zuschritt.
    Sie sah, wie er kniete und ihre Hand in seine unverletzte Hand nahm, sie zu seinen Lippen führte, was er auch mit ihr getan hatte, als er durch das Gras von Farthal auf sie zugegangen war.
    Und doch war es nicht dasselbe, es war nicht dasselbe.
    Und in diesem Augenblick geschah es, dass Leyse von dem Schwanensiegel ihr Lied hörte.
    Sie entfernte sich von diesem Ort, verborgen von der Schattenwand wanderte sie allein, und während dieser ganzen Zeit sammelte sich in ihr ein Lied, ein letztes Lied.
    Am Flussufer weiter im Westen fand sie unter den Weiden und dem Corandiel ein kleines Boot aus Ulmenholz mit einem einzelnen weißen Segel, das so weiß war wie ihr Kleid. Tausend Mal war sie an dieser Stelle vorbeigegangen und hatte dieses Boot nie gesehen. Sie erkannte, dass es vorher auch nicht dort gewesen war. Erst durch die Musik ihres Liedes war es entstanden. Immer hatte sie daran gedacht, dass sie ihr Boot würde bauen müssen, wenn die Zeit herannahte, und sie hatte sich gefragt, wie es ihr gelingen könne.
    Jetzt wusste sie es. Ihr Lied klang in ihr, es hob sich immer mehr und erzeugte eine immer süßere Trauer und Verheißung des Friedens jenseits der Wellen.
    Sie ließ sich in das Boot hinab und stieß es von dem seichten Flussufer und den Weiden weg. Als sie am Nordufer des Celynflusses vorbeitrieb, pflückte sie eine rote und eine silberne Sylvainblüte, um sie mit sich zu tragen, während die Musik sie trug und der Fluss sie zum Meer trug.
    Sie wusste nicht, und es war ein Gnadenerweis, dass ihr dieses Wissen erspart blieb, wie sehr auch dies ein Echo der Geschichte war, in die sie hineingeraten war, und wie sehr es in die traurigste Geschichte aller uralten Geschichten verwoben war. Sie trieb mit der Strömung und mit den Blumen in der Hand, und schließlich erreichte sie das Meer.
    Und dieses Fahrzeug, das von Magie erschaffen, durch eine Sehnsucht erzeugt war, die dem eigentlichen Wesen der Lios Alfar entsprang, schwankte und kenterte nicht in den Wellen des weiten Meeres. Es fuhr nach Westen und immer weiter nach Westen, und immer weiter, bis es schließlich weit genug gefahren war und den Ort erreicht hatte, wo sich alles einschließlich der Welt veränderte.
    Und auf diese Weise segelte Leyse vom Schwanensiegel nach jenseits der Wasser, wo der Seelenverkäufer gewartet hatte, und nach mehr als tausend Jahren war sie die erste ihres Volkes, welche die Welt erreichte, die der Weber selbst für die Kinder des Lichtes, und nur für sie, geschaffen hatte.

 
Kapitel 13
     
    Die Sonne war untergegangen, und

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