Das Kind des Schattens
rief nach ihnen. Kim sank im tiefen kalten Gras auf die Knie, und Matt umarmte sie mit unendlicher Zärtlichkeit. Dann küsste er sie einmal auf die Lippen und drehte sich um.
Sie folgte ihm zu den anderen. Jetzt fühlte sie die Kraft in ihrer Hand und konnte empfinden, wie sie auf die Magie dieses Ortes antwortete. Langsam und allmählich, aber unverkennbar. Und da er nun wieder ihr gehörte, erinnerte sie sich mit einem Male an einige der Dinge, zu denen sie der Baelrath veranlasst hatte. Es gab einen Preis, den man für die Macht entrichten musste. Sie hatte ihn immer und immer wieder zahlen müssen, und mit ihr hatten andere gezahlt: Arthur, Finn, Ruana und die Paraiko, Tabor.
Neu war ihr dieses Leiden nicht, aber jetzt war es noch intensiver, noch schärfer. Aber jetzt hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie kam heran, trat neben Loren, gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Niach mit stillem Ernst zu sprechen begann: »Ich brauche euch wohl nicht mitzuteilen, dass es für das, was heute hier geschehen wird, keine Vorbilder in der Geschichte gibt. Wir erleben Zeiten, die in kein Muster passen. Trotzdem: Die Zwergenversammlung hat sich beraten, und wir werden durchführen, was sie beschlossen hat, und wir sechs werden als Zeugen für das Urteil zwischen den beiden anwesend sein.«
Er hielt inne, um Atem zu holen. Nicht ein Windhauch regte sich in der Gebirgssenke. Die kalte Nachtluft war still, als warte sie, und still war auch das gestirnte Wasser des Sees. Niach fuhr fort: »Ihr werdet beide eure kristallenen Bilder enthüllen, so dass wir sie sehen und ihre Bedeutung erraten können. Und dann werdet ihr sie zusammen ins Wasser werfen, und wir werden auf ein Zeichen vom See warten. Wenn an diesem Vorgehen irgendein Fehler ist, so sprecht jetzt.« Er blickte auf Kaen. Dieser schüttelte den Kopf. »Kein Fehler«, stellte er in seiner klangvollen, schönen Stimme fest. »Soll der, welcher sich von seinem Volk und vom Calor Diman abgewendet hat, diese Stunde zu vermeiden suchen.« Er sah stattlich und stolz aus in seinem schwarzen Umhang, der von der goldenen und schwarzen Brosche zusammengehalten wurde.
Niach blickte auf Matt.
»Kein Fehler«, war Matt Sörens knappe Antwort.
Weiter nichts. Wann hatte er, dachte Kim mit einem Kloß in der Kehle, hatte er in all der Zeit, die sie ihn kannte, ein Wort verschwendet? Er stand mit gespreizten Beinen, die Hände auf die Hüften gestützt, und glich den Felsen rings um ihn her, er wirkte ausdauernd und standhaft.
Und dennoch hatte er diese Berge verlassen. Sie dachte in diesem Augenblick an Arthur und die Kinder, die er erschlagen hatte. Sie grämte sich in ihrem Herzen um der Sünden guter Menschen willen, die in einer dunklen Welt gefangen waren und sich nach dem Licht sehnten.
Die Frage, um die es geht, hatte Niach in Seithrs Halle gesagt, besteht darin, ob der König den See aufgeben kann. Sie wusste es nicht. Niemand von ihnen wusste es. Sie waren hier, um es herauszufinden. Niach wandte sich erneut zu Kaen und nickte. Kaen ging wieder zu seinem Begleiter hinüber, der das mit dem Tuch verhüllte Kristall emporhielt, und mit einer schwungvollen und zugleich anmutigen Bewegung zog Kaen das Tuch weg.
Kim war es, als hätte sie jemand in den Magen geschlagen. Tränen traten in ihre Augen. Ihr Atem stockte, und sie musste einige Zeit darum kämpfen, ihn wieder zurückzuholen. Und diese ganze Zeit verfluchte sie in ihrem Innern die schreckliche Ungerechtigkeit, die ätzende, vollkommene Ironie, die darin lag, dass jemand, der so sehr mit dem Bösen verschwägert war, dessen Taten so tief schwarz an der Schwelle seines Herzens standen, über soviel Schönheit verfügen konnte. Er hatte aus dem Kristall den Zauberkessel von Kath Meigol in Miniaturformat geschaffen.
Er sah genauso aus, wie sie ihn auf ihrer langen dunklen Bewußtseinsreise vom Tempel in Gwen Ystrat gesehen hatte. Damals hatte sie sich so weit in die Schwärze von Rakoths Plänen hineingewagt, dass sie niemals mehr hätte zurückkommen können, hätte nicht Ruana gesungen, um sie zu schützen und ihr einen Grund zur Rückkehr zu geben.
Die Form war genau dieselbe, aber alles war irgendwie umgekehrt. Der schwarze Kessel, den sie gesehen hatte, die Quelle des mörderischen Winters in der Mitte des Sommers, und dann der Todesregen, der Eridu entvölkert hatte, war jetzt ein feines, glitzerndes, unaussprechlich schönes Werk aus kristallinem Licht bis hin zu den Runen, die um den Rand herum
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