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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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weiteren Tag bis hierher, immer auf dem Weg zu seinem Vater.
    Er flog durch die dichter werdende Dunkelheit, und mit seinem scharfen Sehvermögen konnte er auch in der dunklen Nacht erkennen, dass sich unter ihm in der Öde dieses Landes eine unvorstellbar riesige Armee sammelte. Er wusste, wer sie waren, aber er ging nicht tiefer, verlangsamte seinen Flug auch nicht, um Genaueres erkennen zu können. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich.
    Unter ihm hob eine schmale Gestalt mit narbenbedecktem Gesicht plötzlich den Kopf und warf einen scharfen Blick auf den sich verdunkelnden Himmel. Nichts zeigte sich dort oben außer einer einzelnen Eule, deren Gefieder trotz der veränderten Jahreszeit noch immer weiß war. Galadan bobachtete, wie sie nach Norden flog. Über Eulen gab es einen alten Aberglauben: Sie verhießen Glück oder Unglück, je nachdem in welcher Richtung sie am Himmel kreisten.
    Diese hier aber flog pfeilgerade nach Norden über die Armee der Finsternis. Der Wolfsfürst sah ihr nach, bis sie verschwand. Eine namenlose Unruhe quälte ihn. Das lag wohl an der Farbe, diesem merkwürdigen Weiß bei Sonnenuntergang über diesem Ödland, vermutete er. Er verdrängte sie aus seinem Bewusstsein. Jetzt, da der Schnee verschwunden war, war Weiß eine sehr gefährdete Farbe, und diese Nacht mussten noch etliche Schwäne vom Norden zurückkommen. Die Eule würde wahrscheinlich keine Chance haben zu überleben.
    Und so sah es auch aus.
    Einige Stunden später war Darien noch müder geworden, und die Müdigkeit machte ihn sorglos. Nur einen einzigen Augenblick, bevor die grässlichen Krallen eines schwarzen Schwanes aus Avaias Brut sein Fleisch berührten, wurde er sich der Gefahr bewusst. Er kreischte auf, ließ dabei fast seinen Dolch fallen und kurvte in scharfem Bogen schräg nach unten. Trotzdem riss ihm eine der Krallen noch ein halbes Dutzend Federn aus den Flügeln.
    Ein weiterer riesiger schwarzer Schwan stürzte auf ihn zu, seine Schwingen peitschten die Luft. Darien drehte verzweifelt nach rechts ab und zwang sich zu einem steilen Aufstieg … gerade auf den letzten der drei schwarzen Schwäne zu, der hinter den anderen beiden geduldig auf genau diese Bewegung gewartet hatte. Trotz all ihrer vielgerühmten Klugheit waren die Eulen im Kopf ziemlich berechenbar. Mit mörderischem Grinsen wartete der dritte Schwan auf die kleine weiße Eule, begierig, seinen beständigen Durst nach Blut zu stillen.
    In Dariens Brust siegte die Angst über die Müdigkeit, und auf den Schrecken folgte ein rotes Aufwallen von Wut. Er versuchte noch nicht einmal, diesem letzten Schwan auszuweichen, er flog gerade auf ihn zu, und einen Augenblick, bevor sie aufeinander stießen … was ihn mit Sicherheit das Leben gekostet hätte … ließ er seine Augen so rot aufflammen, wie er nur konnte. Mit demselben Feuerstrahl, mit dem er den Baum versengt hatte, verbrannte er auch den Schwan zu Asche. Er hatte nicht einmal Zeit aufzuschreien.
    Darien wechselte wieder die Richtung, in ihm pulsierte die Wut. Er traf die beiden anderen Schwäne mit demselben roten Feuer, und auch sie starben.
    Er sah zu, wie sie auf die dunkle Erde unter ihm hinabfielen. Die Luft um ihn her war voll vom Gestank versengter Federn und verbrannten Fleisches. Er fühlte sich plötzlich schwindelig und überwältigend schwach. In einem langsamen, sachten Gleiten senkte er seinen Flug nach unten und schaute nach irgendeinem Baum aus. Er fand keinen, nicht in Andarien, wo seit tausend Jahren kaum noch etwas gewachsen war.
    Da er nichts Besseres finden konnte, ließ er sich auf dem Abhang eines kleinen Hügels nieder, der von Rundlingen und scharf gezackten Steinen übersät war. Es war kalt. Der Wind blies aus dem Norden und pfiff durchdringend, wenn er an den Felsen vorbeistrich. Am Himmel leuchteten einige Sterne, und im Osten hatte sich der abnehmende Mond gerade über den Horizont erhoben. Er bot jedoch keinen Trost, sondern warf nur ein kühles dünnes Licht über die steinige Landschaft, das verkümmerte Gras.
    Darien nahm wieder seine eigene Gestalt an. Er blickte um sich. Soweit er in der leeren Nacht sehen konnte, bewegte sich nichts. Er war vollständig allein. Mit einer Geste, die ihm in den vergangenen zwei Tagen zum Reflex geworden war, obwohl er sich dessen nicht bewusst war, berührte er den Stein im Reif von Lisen. Er war so kühl, dunkel und fern, wie er immer schon gewesen war, seit er das Diadem aufgesetzt hatte. Er konnte sich daran erinnern,

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