Das Kind des Schattens
stören«, entschuldigte sich der Sohn des Aven und bemühte sich, ironisch zu klingen. »Aber wir haben die Aufgabe, den Großkönig über die Ereignisse der heutigen Nacht aufzuklären, und wenn wir zurück sein wollen, bevor Torc und Sorcha falschen Alarm schlagen, sollten wir uns jetzt in Bewegung setzen.«
Aileron. Sie würde auch Aileron jetzt wieder sehen. So viel geschah in so schneller Abfolge. Sie holte Atem, und als sie sich umdrehte, wurde sie gewahr, dass Matt zu ihr herübergekommen war.
Ihr Lächeln verschwand. Unter den immergrünen Bäumen von Gwynir sah sie vor sich den Kristallsee und einen Drachen, der daraus emporstieg, dessen glitzernde Schwingen weit ausgebreitet waren. Es war ein Ort, den sie niemals mehr betreten würde, nicht unter Sternen, nicht unter der Sonne, nicht unter dem Mond. Sie war eine Seherin, sie wusste, dass es so war. Sie und Matt blickten einander lange an.
Schließlich sagte er: »Der Ring ist dunkel.«
»Ja«, bestätigte sie und musste nicht einmal herabschauen. Sie wusste es. Sie wusste auch noch etwas anderes, aber das war die Last, die sie selbst tragen musste, nicht er. Sie erwähnte nichts davon.
»Seherin«, begann Matt. Er hielt inne. »Kim. Du hättest ihn binden sollen, nicht? Du hättest ihn in den Krieg rufen sollen?« Nur Loren und Niach, die hinter Matt standen, konnten wissen, worüber er sprach.
Sie setzte ihre Worte sorgfältig, als sie erwiderte: »Matt, wir haben die Wahl, wir sind nicht Sklaven, nicht einmal die Sklaven unserer Gaben. Ich habe mich entschieden, den Ring auf andere Weise zu verwenden.« Mehr sagte sie nicht. Sie dachte an Darien, als sie über die freie Wahl sprach und erinnerte sich, wie er an einem brennenden Baum vorbei nach Pendaran hineinrannte.
Matt holte tief Luft und nickte dann langsam. »Darf ich dir danken?« fragte er.
Das war schwierig, aber alles war jetzt schwierig. »Noch nicht«, beschied sie ihm. »Warte und beobachte. Vielleicht willst du es nicht. Aber ich glaube, dass wir nicht lange warten müssen.«
Das letzte sprach sie in der Stimme der Seherin, und deshalb wusste sie, dass es wahr war.
»Gut«, bemerkte Matt. Er wandte sich an Levon: »Du sagst, dass du den Großkönig benachrichtigen musst. Wir werden morgen zu euch stoßen. Die Zwerge haben eine schlimmere Zeit durchlebt als irgend jemand sonst in unserer Zeit. Wir werden heute Nacht in diesen Wäldern unter uns bleiben und uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Richte Aileron aus, dass wir ihn hier treffen werden, wenn er kommt und dass Matt Sören, der König der Zwerge, sein Volk dann dem Heer des Lichtes zuführen wird.«
»Ich will es ihm berichten«, versprach Levon einfach. »Kommt, Tabor, Mabon, Faebur.« Er blickte auf Kim, und sie nickte. Mit Loren und Dave zu ihrer Rechten und Linken folgte sie Levon nach Süden.
»Warte!« schrie Matt plötzlich. Zu ihrem Erstaunen hörte Kim wirkliche Furcht in seiner Stimme. »Loren, wohin gehst du?«
Loren drehte sich um, und in sein durchfurchtes Gesicht trat ein Ausdruck der Hilflosigkeit. »Du hast uns doch gebeten wegzugehen«, begründete er sein Handeln. »Du hast uns doch gebeten, die Zwerge heute Nacht alleine zu lassen.«
Matts finster entschlossenes Gesicht schien sich im Licht des Feuers zu verändern. »Nicht du«, flüsterte er leise. »Niemals du, mein Freund. Du wirst mich doch jetzt sicher nicht verlassen?«
Die beiden blickten einander auf eine Art und Weise an, die den Eindruck erzeugte, als seien sie inmitten vieler Menschen völlig allein. Und dann begann Loren ganz langsam zu lächeln.
Als Kim und Dave Levon aus der Lichtung in die Dunkelheit der immergrünen Bäume folgten, hielten sie einen Augenblick lang an und blickten zurück. Sie sahen Matt Sören mit Brock auf der einen Seite und Loren Silbermantel auf der anderen Seite. Matt hatte seine Fingerspitzen vor der Brust aneinandergelegt, die Handflächen hielt er in einem kleinen Abstand voneinander, es schien, als bildete er mit seinen Händen einen Berggipfel. Und einer nach dem anderen gingen die Zwerge von den Zwillingsbergen zu ihm hin, knieten vor ihm nieder und legten die Hände in die seinen, in den Schutz des Berges, den der Zwergenkönig schuf.
Kapitel 14
Auf eine Art war es leichter gewesen, als sie es hatte erwarten dürfen, dachte Leila, während sie den letzten Tönen der Morgenklage für Liadon lauschte. Sie stand allein hinter dem Altar und konnte über all die anderen hinblicken, sie
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