Das Kind des Schattens
wie es in den Händen der Seherin geschimmert hatte. Diese Erinnerung war wie eine Schwertklinge oder wie die Wunde, die durch so eine Klinge hervorgerufen worden war. Entweder dies oder beides.
Er ließ seine Hand wieder sinken und blickte von neuem um sich. Nach allen Richtungen dehnte sich die Einöde von Andarien aus. Er war so weit im Norden, dass der Rangat fast östlich von ihm lag. Er ragte über all die Länder des Nordens auf, er war beherrschend und großartig. Darien ließ jedoch seine Blicke nicht lange auf dem Berg ruhen.
Stattdessen schaute er nach Norden aus. Und weil er sehr viel mehr als nur ein Sterblicher war und weil seine Augen sehr gut waren, konnte er weit hinter dem mondbeleuchteten Schatten, wo das steinige Hochland die Berge und das Eis erreichte, ein kaltes grünliches Glühen erkennen. Und er wusste, dass dies Starkadh war, Starkadh hinter der Valgrind-Brücke, und dass er morgen bis dorthin fliegen könnte.
Aber er entschied, dass er es nicht tun würde. Irgend etwas an der Eulengestalt stimmte nicht. Er bemerkte, dass ihm seine eigene Gestalt lieber war, dass er Darien sein wollte, was und wer das auch immer sein mochte, um die Klarheit der Gedanken wiederzuerlangen. Er erreichte sie, wenn auch um den Preis der Einsamkeit, nur in seiner menschlichen Gestalt. Aber auch so könnte er diesen Weg zurücklegen. Er würde nicht fliegen, er würde zu Fuß über die Steine und den dürren Boden gehen, er würde mit einem erloschenen Licht auf seiner Stirn und mit einer Klinge in seiner Hand als Geschenk für die Finsternis als Wanderer nach Starkadh kommen.
Aber heute Nacht nicht mehr. Er war zu müde. Und in seiner Flanke, wo die Kralle des Schwans ihn getroffen hatte, empfand er Schmerz. Wahrscheinlich blutete er, aber er war zu erschöpft, um auch nur nachzusehen. Er legte sich auf der südlichen Seite eines der größten Findlinge nieder, um wenigstens einen geringen Schutz gegen den Wind zu finden. Dann schlief er trotz seiner Ängste und Sorgen schnell ein. Er war noch jung, er hatte einen langen Weg zu einem einsamen Ort zurückgelegt, und seine Seele war ebenso übermüdet wie sein Körper.
Während er in die fernen Länder des Schlafes überwechselte, segelte seine Mutter auf einem Geisterschiff die Lindenbucht hinab und näherte sich vor der mondbeschienenen Westküste des Landes der Mündung des Celynflusses.
Die ganze Nacht träumte er von Finn, ebenso wie Leila weit im Süden, in ihrem Tempel. Er träumte von jenem letzten Nachmittag, als er noch klein gewesen war und mit seinem Bruder in dem Hof hinter dem Cottage gespielt hatte. Sie hatten Reiter gesehen, die in östlicher Richtung von ihnen über die schneebedeckten Abhänge galoppierten. Er hatte mit seiner behandschuhten Hand gewunken, weil Finn ihn dazu aufgefordert hatte. Und dann war Finn den Reitern hinterhergelaufen und mit ihnen viel, viel weiter gegangen, als irgend jemand sonst und selbst Darien gehen konnte, und sei es auch nur im Traum.
Während er auf dem kalten Boden von Andarien lag und sich an einen überhängenden Rundling schmiegte, merkte er nicht, dass er im Schlaf weinte. Ebenso wenig wusste er, dass er die ganze Nacht hindurch nach dem leblosen Stein auf seiner Stirn griff, dass er immerzu nach etwas suchte und suchte und doch keine Antwort fand.
»Weißt du«, sagte Diarmuid und blickte mit bedeutsamem Gesichtsausdruck in Richtung Osten, »wenn man das sieht, könnte man fast doch an brüderliche Instinkte glauben.«
Paul, der neben ihm am Ufer des Celynflusses stand, schwieg. Jenseits des nordwestlichen Ausläufers des Celynsees nahte das Heer heran. Es war noch zu weit entfernt, als dass er einzelne Details hätte erkennen können, aber darauf kam es nicht an. Wichtiger war vielmehr, dass Diarmuid trotz der unwillkürlichen Ironie seiner Worte tatsächlich recht gehabt hatte.
Aileron hatte nicht gewartet, weder auf sie noch auf sonst irgend jemand. Er hatte diesen Krieg zu Maugrim getragen. Wieder war das Heer des Hochkönigs in Andarien, tausend Jahre nachdem es zuletzt durch diese wilde, öde Hochebene gezogen war. Und im Licht des späten Nachmittages wurde dieses Heer von Ailerons Bruder Diarmuid erwartet, von Arthur, Lancelot und Guinevere, von Sharra von Cathal und der Hohenpriesterin Jaelle, von den Männern der Südfeste, die auf der Prydwen gesegelt waren, und von Pwyll Zweimalgeboren, dem Herrn des Sommerbaums.
Herr des Sommerbaums, dachte Paul, was war das nun wert. Im
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