Das Kind des Schattens
dieser schienen bereits von sehr ferne zu kommen.
Der Himmel war inzwischen bedeutend heller geworden. Der Nebel lüftete sich. Er wandte sich an Gereint, der, ohne etwas zu sagen, geduldig gewartet hatte. Tabor sagte: »Du kennst ihren Namen, Schamane. Du weißt die Namen von all unseren Totemtieren, auch von diesem hier. Wenn du willst, wird sie dich tragen. Willst du mit uns fliegen?«
Und Gereint antwortete ruhig und unerschütterlich wie immer: »Ich hätte es mir nicht angemaßt, darum zu bitten, aber vielleicht gibt es noch einen Grund, warum ich dort sein sollte. Ja, ich will mit euch kommen. Helft mir aufzusteigen.«
Ohne Aufforderung trat Imraith-Nimphais an den schmächtigen, verschrumpelten Schamanen heran. Sie stand ganz still, als Tabor seine Hand herabreichte und Liane nach vorne trat und Gereint dabei half, hinter Tabor aufzusitzen.
Dann schien es, als sei nichts weiter mehr zu sagen, auch blieb ihnen keine Zeit mehr, selbst wenn sie dazu noch fähig gewesen wären. In seinem Bewusstsein sprach Tabor zu seinem Traumwesen: Lass uns fliegen, meine Geliebte. Und mit diesem Gedanken waren sie bereits im Himmel, schwenkten nach Norden, gerade als die Morgensonne rechts von ihnen über den Horizont hervorbarst.
Auch ohne sich umzusehen, wusste Tabor, dass hinter ihm seine Mutter stand, dass sie trockenen Auges und in aufrechter Haltung seine Schwester in ihren Armen hielt und zusah, wie ihr jüngster Sohn wegflog.
Das war sein letzter klarer Gedanke, sein letztes klares Bild aus der Welt der Menschen gewesen, als sie mit höchster Geschwindigkeit hoch über der hinziehenden Ebene durch den Morgen sausten und mit der Sonne zu einem Schlachtfeld rasten.
Und sie hatten es erreicht, sie hatten es rechtzeitig erreicht, die Sonne stand schon hoch und begann, in den Westen hinabzuwandern. Sie waren angekommen, Tabor hatte ein schwarzes Ungeheuer gesehen, einen riesigen Schwan, der vom Himmel herabstieß, er hatte sein Schwert gezogen, Imraith-Nimphais, herrlich und todgefährlich, hatte noch Schnelligkeit zugelegt, sie hatten den herabstoßenden Schwan getroffen und ihm zwei tödliche Wunden mit dem glänzenden Schwert und dem Horn versetzt.
Als es vorüber war, hatte Tabor wie jedes Mal zuvor, wenn sie geflogen waren und getötet hatten, gefühlt, dass das Gleichgewicht seiner Seele wieder weiter von jener Welt weggerückt war, in der sich die Menschen um sie her bewegten.
Gereint stieg ohne Hilfe ab, und so standen Tabor und Imraith-Nimphais allein unter Männern und Frauen, von denen sie einige kannten. Er sah das dunkle Blut auf dem Horn seines Reittiers und hörte, dass er genau in diesem Augenblick, als er selbst den Gedanken formte, bereits ihm zuraunte: Wenn das Ende naht, haben wir nur einander.
Und dann hörte er einen Augenblick später, wie Silbermantel laut aufschrie, er fuhr herum und ließ seinen Blick über das Getümmel auf dem Schlachtfeld nach Norden schweifen, wo sein Vater und sein Bruder kämpften. Er blickte auf, sah den Schatten, fühlte den Wind, erkannte, was jetzt schließlich hier angekommen war, und wusste im gleichen Moment, warum er sein Flügelwesen geträumt hatte und dass das Ende für sie nahte.
Er zögerte nicht, drehte sich nicht um, um sich von irgend jemand zu verabschieden. Er war bereits zu weit weg, um das zu tun. Er bewegte ein wenig seine Hände, und Imraith-Nimphais sprang in den Himmel, um sich dem Drachen zu stellen.
Es war der Drache von Rakoth Maugrim im Himmel über Andarien. Tausend Jahre zuvor war er noch zu jung gewesen, um zu fliegen, seine Schwingen waren zu schwach, um das ungeheure Gewicht seines massiven Körpers zu tragen. Der Drache war die geheimste und schrecklichste Erfindung, die Maugrim in seiner Bösartigkeit ersonnen hatte, aber er hatte in dem Krieg, der vor tausend Jahren stattfand, noch keine Rolle spielen können: ein Umstand, der aus der unziemlichen Hast des Entwirkers beim Bael Rangat resultierte.
So hatte er sich in einer unterirdischen Kammer versteckt, die unter Starkadh ausgehoben worden war, und als das Ende gekommen war, als das Heer des Lichtes sich seinen Weg nach Norden gebahnt hatte, war der Drache von Rakoth weggeschickt worden. Er flog mit unbeholfenen, halbgelähmten Bewegungen nach Norden, um im ewigen Eis, wo kein Mensch je hingehen würde, Zuflucht zu finden.
Die Lios Alfar und die weitsichtigsten unter den Männern hatten ihn von weitem gesehen, aber sie waren noch immer zu fern, um ihn genau erkennen zu
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