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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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fauligen Tod in der Luft kündete und nun zurückkehrte, um ihr Opfer ein zweites Mal zu holen. So laut er nur konnte, schrie Paul ein Warnung aus und begann wie ein Besessener, die Entfernung zwischen ihnen hinter sich zu bringen. Er rannte aus Leibeskräften. Der Schwan aber war wie ein schwarzes Projektil, das mit vernichtender Geschwindigkeit herabstürzte. Auf Pauls Schreie hin wandte Jennifer sich um und blickte nach oben. Sie sah Avaia und wich nicht aus. Tapfer griff sie nach dem dünnen Messer, das sie ihr gegeben hatten. Paul rannte, wie er nie zuvor in seinem ganzen Leben gerannt war. Ein Seufzer entrang sich ihm. Zu weit, er war zu weit weg. Er versuchte, bemühte sich um höhere Geschwindigkeit, um mehr, um irgend etwas. Ein fleischiger Gestank erfüllte die Luft, ein kreischender Triumphschrei ertönte. Jennifer hob ihre Klinge. Zehn Meter von ihr entfernt stolperte Paul, fiel zu Boden, hörte, wie er ihren Namen schrie, erhaschte einen Blick auf die scharf gekrümmten Fänge des Schwanes …
    Und sah, wie Avaia drei Meter über Jennifers Kopf durch einen roten Kometen im Himmel zu einem wirren Bündel von Federn zermatscht wurde. Ein lebender Komet, der sich blendend schnell irgendwie materialisiert hatte, um ihren Weg zu kreuzen. Ein Horn gleich einem Messer explodierte in Avaias Brust. Ein helles Schwert traf ihren Kopf. Der schwarze Schwan kreischte in Schmerz und Schrecken so grässlich auf, dass sie es unten auf der Ebene hören konnten. Avaia fiel noch immer kreischend vor ihren Füßen zu Boden, und Guinevere ging ohne zu wanken zu ihr hin, blickte auf das Geschöpf hinab, das sie Maugrim ausgeliefert hatte.
    Einen Augenblick lang stand sie so, dann drang ihr dünnes Messer in Avaias Kehle, das Kreischen hörte auf, und Lauriel, die Weiße, war nach nunmehr tausend Jahren gerächt.
    Das Schweigen auf dem Grat war überwältigend. Selbst das Kriegsgetümmel auf der Ebene schien abgenommen zu haben. Wie Paul, so sahen alle voller Ehrfurcht zu, als Gereint, der alte blinde Schamane, vorsichtig zu Boden kletterte und Tabor dan Ivor allein auf seinem geflügelten Wesen zurückließ. Die beiden schienen selbst unter so vielen Menschen seltsam und unheimlich fern. Blut war auf seinem Schwert, und Blut auf ihrem tödlichen glänzenden Horn. Der Schamane stand ganz ruhig, den Kopf hatte er ein wenig erhoben, als lausche er nach irgend etwas. Er zog die Luft ein, die von dem verwesenden Geruch des Schwanes stank.
    »Ha!« rief Gereint aus und spuckte vor sich auf den Boden.
    »Sie ist tot, Schamane«, bemerkte Paul ruhig. Er wartete.
    Gereints blicklose Augen richteten sich zielsicher auf die Stelle, wo Paul stand. »Zweimalgeborener?« fragte der alte Mann.
    »Ja«, antwortete Paul. Er trat einen Schritt vorwärts und umarmte zum ersten Mal die alte, blinde, tapfere Gestalt, die ihre Seele so weit geschickt hatte, um auf dem dunklen weiten Meer Pauls Seele zu finden.
    Dann trat er wieder zurück, und Gereint wandte sich mit dieser unnachahmlichen Genauigkeit in Kims Richtung, und die Seherin schwieg, über ihr Gesicht strömten die Tränen und niemand verstand es. Der Schamane und die Seherin standen einander gegenüber, es wurden keine Worte gewechselt. Kim schloss ihre Augen und weinte noch immer.
    »Es tut mir leid«, klagte sie mit gebrochener Stimme. »O Tabor, es tut mir leid.«
    Paul verstand nicht. Er sah, wie Loren Silbermantel ruckartig den Kopf hob.
    »War es das, Gereint«, fragte Tabor in merkwürdig ruhigem Ton. »War es der schwarze Schwan, den du gesehen hast?«
    »O mein Kind«, flüsterte der Schamane. »Um der Liebe willen, die ich für dich und deine ganze Familie empfinde, wünschte ich, dass es so wäre.«
    Nun hatte Loren sich vollständig umgedreht und starrte nach Norden.
    »Weber am Webstuhl!« schrie er.
    Dann sahen auch die anderen das Heranbrausen eines Schattens, sie hörten ein gewaltiges, brüllendes Geräusch und spürten den mächtigen Windstoß, der herankam.
    Jaelle ergriff Pauls Arm. Er spürte ihre Bewegung, schaute aber auf Kim, als der Schatten auf sie zuraste. Jetzt endlich verstand er ihren Gram, und er wurde zu dem seinen. Aber es gab nichts, was er hätte tun können, überhaupt nichts. Er sah, dass Tabor aufblickte. Die Augen des Jungen schienen sich weit zu öffnen. Er berührte sein herrliches Reittier, es breitete seine Schwingen aus, und sie erhoben sich in den Himmel.
    Er hatte den Befehl, bei den Frauen und Kindern in jenem Landstrich östlich des Latham

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