Das Kind des Schattens
zu bleiben und sie, wenn notwendig, zu beschützen. Doch Tabor wusste, dass das ebenso sehr um seinetwillen geschah wie um ihretwillen: Sein Vater versuchte ihn auf diese Weise davon abzuhalten, die Welt der Menschen zu verlassen, und das schien immer dann zu geschehen, wenn er auf Imraith-Nimphais ritt.
Aber Gereint hatte nach ihm gerufen. In dieser grauen Stunde vor der Dämmerung vor dem Haus des Schamanen war er nur halb wach gewesen, aber er hatte Gereints Worte gehört, und alles hatte sich verändert.
»Kind«, sprach der Schamane zu ihm. »Ich habe eine Vision von Cernan bekommen, die ebenso deutlich war wie damals, als er zu mir kam und dich für deinen Festtag erwählte. Es tut mir leid, aber du musst fliegen. Sohn Ivors, du hast in Andarien zu sein, bevor die Sonne hoch am Himmel steht!«
Es schien Tabor, als spiele irgendwo im Bodennebel und all dem Grau, das sich vor Aufgang der Sonne überall ausdehnte, eine leise, flüchtige Musik. Neben ihm standen seine Mutter und seine Schwester. Der Knabe, den Gereint mit seiner Botschaft geschickt hatte, hatte auch sie geweckt. Tabor wandte sich an seine Mutter, versuchte zu erklären, um Verzeihung zu bitten …
Und er sah, dass es nicht notwendig war, nicht bei Leith. Sie hatte sein Schwert aus dem Haus geholt, und er hatte keine Ahnung, wie sie hatte wissen können, dass er es brauchen würde. Sie hielt es ihm entgegen, er nahm es aus ihren Händen. Ihre Augen waren trocken. Es war immer sein Vater gewesen, der geweint hatte.
Seine Mutter bedeutete ihm in ihrer ruhigen, kräftigen Stimme: »Du wirst tun, was du tun musst, und dein Vater wird es verstehen, da die Botschaft von Gott kommt. Webe leuchtend für die Dalrei, mein Sohn, und bringe sie nach Hause.«
Tabor erschien es schwierig, eigene Worte zu bilden. Um ihn her und immer deutlicher konnte er die merkwürdige Musik hören, die ihn in die Ferne rief.
Er wandte sich zu seiner Schwester. Im Gegensatz zu ihrer Mutter weinte Liane, und es tat ihm leid für sie. Er wusste, dass sie in Gwen Ystrat, in jener Nacht, als Liadon starb, verletzt worden war. Sie hatte in diesen Tagen eine neue Verletzlichkeit an sich. Oder vielleicht war sie immer schon so gewesen, und er bemerkte es erst jetzt. Aber das spielte in diesem Moment wirklich keine Rolle mehr. Schweigend, denn das Sprechen wurde ihm jetzt schwer, reichte er ihr sein Schwert und hob seine Arme. Kniend schnallte ihm seine Schwester den Schwertgürtel um. Auch sie sprach nicht. Als sie damit fertig war, küsste er zuerst sie und dann seine Mutter. Leith drückte ihn einen Augenblick lang an sich, dann ließ sie ihn gehen. Er trat ein wenig von ihr zur Seite.
Die Musik war jetzt verklungen. Im Osten über der Bergkette des Carnevon, in dessen aufragenden Schatten sie lagen, war der Himmel heller geworden. Tabor ließ seinen Blick über das schweigende, schlafende Lager gleiten.
Dann schloss er seine Augen und sagte in sich, nicht laut: Geliebte!
Und fast bevor noch dieser Gedanke vollkommen gebildet war, hörte er die Stimme seines Traums, welche die Stimme seiner Seele war, … sie antwortete: Hier bin ich. Sollen wir fliegen? Er öffnete seine Augen. Sie schwebte über ihnen im Himmel, strahlte schöner und heller, als er sich selbst in seinem inneren Wissen erinnern konnte. Jedes Mal, wenn sie kam, schien sie noch strahlender, ja noch leuchtender. Sein Herz hob sich, als er sie sah und dabei beobachtete, wie sie so gewandt an seiner Seite landete.
Ich glaube, wir müssen fliegen, antwortete er ihr und ging zu ihr, um ihre glänzende rote Mähne zu streicheln. Sie senkte den Kopf, so dass das gleißende Horn einen Augenblick auf seiner Schulter ruhte. Ich glaube, das ist die Zeit, um derentwillen wir zusammengebracht wurden.
Wir werden einander haben, sagte sie zu ihm. Komm, ich will dich zum Sonnenaufgang emporheben.
Er lächelte ein wenig über ihren Eifer, aber schon einen Augenblick später schwand sein nachsichtiges Lächeln hinweg, er fühlte dieselbe wilde Freude in sich aufwallen. Er bestieg Imraith-Nimphais, und schon breitete sie ihre Schwingen aus. Warte, bat er mit dem letzten Rest seiner Selbstkontrolle. Er wandte sich zurück. Seine Mutter und seine Schwester beobachteten sie. Leith hatte sein geflügeltes Reittier niemals zuvor gesehen, und ein ferner Teil in Tabors Seele schmerzte, als er ehrfürchtiges Staunen in ihrem Gesicht las. Eine Mutter sollte vor ihrem Sohn keine Ehrfurcht empfinden, dachte er. Aber Gedanken wie
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