Das Kind des Schattens
betrauert wurden.
Kim sah auch Kevin, der unter den Versammelten geehrt wurde, und sie erkannte Ysanne, die selbst unter Geistern noch besonders substanzlos erschien, denn sie hatte sich weiter entfernt als irgendein anderer von ihnen, sie war durch ihr Opfer so weit weggegangen, dass Kim kaum begriff, wie es Ruana gelungen war, selbst noch ihren Schatten hierher an diesen Ort zu bringen.
Schließlich kamen dann keine neuen Gestalten mehr in den Ring. Kim blickte auf Ruana, der langsam hin und her schwang, seine Augen waren geschlossen vom Gewicht all dessen, was er zu tragen hatte. Sie sah, wie sich seine Hände in seinem Schoß zusammenkrampften, als seine Stimme sich ein letztes Mal veränderte, als er noch tiefer sang und einen Zugang zu noch reinerem Schmerz fand.
Und dann rief er mit der entwaffnenden Weite seiner Seele noch die toten Svart Alfar und die Urgach herbei, die sein Volk eingesperrt und getötet und sogar verschlungen hatten, als sie tot waren.
Kim hatte niemals etwas gesehen, was der Größe von Ruanas Handlungen in diesem Augenblick gleichkam. Es war die äußerste und unwiderlegliche Bestärkung der Identität seines Volkes. Es war in der Dunkelheit der Nacht ein klarer Klang, er verkündete, dass die Paraiko noch immer ohne Hass waren, dass sie dem Schlimmsten, was Rakoth Maugrim tun konnte, gewachsen und sogar überlegen waren, dass sie seine Übeltaten aushalten, in sich aufnehmen und zu guter Letzt darüber hinaus wachsen konnten, dass sie blieben, was sie immer gewesen waren, dass sie niemals dahinter zurückfallen und Sklaven der Finsternis werden würden.
In diesem Augenblick fühlte Kim sich gereinigt durch Ruanas Wirken, und als sie sah, dass seine Augen sich öffneten und auf ihr ruhten, während er noch sang, wusste sie, was nun kommen würde. Doch in seiner Gegenwart fürchtete sie nichts. Sie beobachtete, wie er einen Finger hob, und mit diesem Finger wie mit einer Messerschneide die Haut in seinem Gesicht und an seinen Armen in langen tiefen Schnitten öffnete.
Kein Blut floss, kein Tropfen Blut, obwohl die Haut durch diese Wunden verletzt war und sie die Nerven und Arterien im Innern sehen konnte.
Er blickte sie an. Sie fürchtete sich überhaupt nicht, sondern hob in einer Stimmung der Trauer und der Sühne ihre Hände, zog ihre Fingernägel über ihre Wangen und dann hinab bis zu den Adern ihrer Unterarme, und sie fühlte, dass sie durch ihre Berührung ihre Haut aufschlitzte. Sie war Ärztin, und sie wusste, dass dies tödlich sein konnte.
Aber auch aus ihren Wunden quoll kein Blut, obwohl sie noch immer Tränen vergoss. Tränen des Schmerzes und jetzt auch der Dankbarkeit, dass Ruana ihr dieses Geschenk gemacht hatte, dass er stark genug gewesen war, eine so tiefe Magie zu schaffen, dass selbst sie, die nicht zu den Paraiko gehörte und so schwere Schuld tragen musste, in den unblutigen Riten unter all diesen Toten Vergebung finden konnte.
Als Ruanas Stimme sich dann in den letzten Tönen seines Kanior wieder hob, fühlte Kim, dass ihre Wunden sich schlossen, sie blickte auf ihre Arme nieder: Die Haut war heil und ohne Narben, und aus dem Springquell ihres Seins dankte sie ihm für das, was er ihr gegeben.
Dann sah sie, dass der Baelrath brannte.
Nichts war jemals schlimmer gewesen, nicht einmal die Beschwörung Arthurs aus seiner Ruhestätte in Avalon unter den Sommersternen. Nach dem Willen des Webers war der Krieger dazu verdammt, immer wieder beschworen zu werden, Gram zu leiden und mit all den Jahren und Welten sein Verbrechen, den Kindermord, wieder gutzumachen. Sie hatte seine Ruhe mit jenem schrecklichen Namen zerschmettert, den sie auf dem Tor herausschrie, und ihr eigenes Herz wäre dabei fast vor Leiden zersprungen. Aber sie hatte sein Schicksal nicht bestimmt, das war lange zuvor geschehen. Sie und der Baelrath hatten nichts geschaffen, hatten nichts verändert. Sie hatte ihn nur, und das voller Kummer, dazu gezwungen, was er seinem Schicksal zufolge ohnehin tun musste.
Dies hier aber war anders und unvorstellbar viel schlimmer. Denn mit dem Flackern des Ringes wurde das Bild ihres Traumes wirklich, und Kim wusste nun endlich, warum sie hier war. Um die Paraiko zu befreien, ja, aber nicht nur dazu. Wie hätte das auch in einer Kriegszeit möglich sein können, noch dazu für sie? Der Ring hatte sie hierher geführt, und der Baelrath stellte eine Beschwörungskraft dar. Er war ungestüm und ließ kein Mitgefühl zu, er kannte nur die Erfordernisse des
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