Das Kind des Schattens
mit anschauen, wie er in seiner ganzen Hässlichkeit über sie herfiel. Sie sahen zu, wie er dann seine Gestalt immer wieder veränderte, und hörten, was gesagt und verstanden wurde, hörten, dass er ihr Bewusstsein entzweiriss, um Wege für ihre Folter zu finden.
Es dauerte lange. Kim spürte, wie sich eine Welle des Ekels nach der anderen in ihr erhob, aber sie zwang sich hinzusehen. Jennifer war dort gewesen, sie hatte es durchlebt und überlebt, und durch den Schrecken dieses Bildes wurde den Paraiko ihre Kollektivseele genommen. Sie konnten nicht wegblicken, die Kraft des Baelrath zwang sie, und auch sie selbst beobachtete. Es war eine Buße im trivialsten Sinn, es war ein Suchen nach Sühne, die sich niemals einstellen würde. Aber sie wandte den Blick nicht ab. Sie sah den Zwerg Blod, der nun ins Bild hineingezogen wurde, und es tat ihr leid für Brock, dass er diesen letztendlichen Betrug sehen musste.
Sie schaute bis zum Ende zu.
Dann war es vollkommen still in Kath Meigol. Sie konnte niemand atmen hören. Ihre eigene betäubte, zerschlagene Seele sehnte sich nach irgendeinem Geräusch, nach Vogelgesang, nach rieselndem Wasser oder Kindergelächter. Sie brauchte Licht, ein wärmeres, freundlicheres Licht als das rote Glühen des Feuers oder der Bergsterne oder des Mondes.
Nichts davon wurde ihr gewährt. Statt dessen wurde sie sich eines anderen Umstandes bewusst. Seit ihrer Ankunft in Kath Meigol hatte sie Angst verspürt. Es war ein Bewusstsein von der Anwesenheit der Toten in all ihrer unverletzlichen Heiligkeit, die diesen Platz mit dem Blutfluch, der in sie eingewebt war, bewachten.
Aber diese Angst war verschwunden. Sie weinte nicht, denn was sie hier erlebte, war weit jenseits des Schmerzes. Es berührte ganz unmittelbar die Fäden des Gewirks auf dem Webstuhl. Sie hielt ihre rechte Hand an ihre Brust, sie war voller Blasen und schmerzte bei der Berührung. Der Baelrath schwelte, die letzten Funken schienen noch fern in seinen Tiefen zu glühen.
»Wer bist du«, fragte Ruana, und seine Stimme war gebrochen, als er diese Worte sprach. »Wer bist du, dass du uns das angetan hast. Wären wir doch statt dessen in den Höhlen gestorben.«
Es tat so weh. Sie öffnete den Mund, doch kein Wort kam über ihre Lippen.
»Aber nein«, antwortete eine Stimme für sie. Es war Brock, der treue, standhafte Brock von Banir Tal. »Aber nein, ihr Leute von Paraiko.« Seine Stimme war schwach, als er begann, aber sie wurde mit jedem Wort stärker. »Ihr wisst, wer sie ist, und ihr wisst, was sie trägt. Wir sind im Krieg, und der Kriegsstein von Macha und Nemain ruft dann, wenn es nötig ist. Wollt ihr eure Friedlichkeit so hoch einschätzen, dass ihr Maugrim die Herrschaft überlasst? Wie lange würdet ihr überleben, wenn wir von hier weggingen und im Krieg vernichtet würden? Wer würde sich an eure Heiligkeit erinnern, wenn wir alle und ihr alle tot oder versklavt wären?«
»Der Weber«, erwiderte Ruana sanft.
Brock hielt inne, aber nur einen Augenblick lang. »Und Rakoth«, fügte er an. »Und du hast sein Gelächter gehört, Ruana. Wenn der Weber euch dazu bestimmt hätte, immer und in Ewigkeit heilig und unberührt zu bleiben, wie hättet ihr euch dann durch das Bild, das wir heute Nacht gesehen haben, verändern können? Wie könntet ihr die Finsternis hassen? Wäre es möglich gewesen, dass ihr zum Heer des Lichtes geführt werdet, wie es geschehen ist? Dies ist mit Sicherheit euer wirkliches Schicksal, ihr Leute von Kath Meigol. Es ist ein Schicksal, das euch erlaubt zu wachsen, wenn die Not groß ist, so bitter der Schmerz auch sein mag. Ihr habt nun die Möglichkeit, aus diesen euren Höhlen und Stätten hervorzukommen und euch in all den Welten des Webers, die von der Finsternis heimgesucht werden, mit uns zu vereinen.«
Er kam zu Ende. Wieder trat Schweigen ein. Und dann kamen Stimmen aus dem Kreis der Riesen: »Es ist um uns geschehen.«
»Wir haben den Blutfluch verloren.«
»Und das Kanior.«
Es erhob sich ein herzzerreißendes Wehklagen, als sie ihren Verlust betrauerten.
»Halt!« ertönte eine andere Stimme. Es war weder Ruana noch Brock. »Ihr Leute von den Paraiko«, rief Dalreidan, »verzeiht mir meine Anmaßung, aber ich möchte eine Frage stellen.«
Langsam schwand das Wehklagen hinweg. Ruana neigte seinen Kopf dem Ausgestoßenen von der Ebene zu. »Habt ihr nicht in dem, was ihr diese Nacht getan habt, in diesem großen Geschehnis dieser Nacht eine Art Abschied verspürt? Habt
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