Das Kind des Schattens
ihr nicht in dem Kanior, das alle Paraiko, die je lebten, sammelte und betrauerte, ein Zeichen vom Weber, der euch geschaffen hat, ein Zeichen, das ein Ende bedeutet, gefunden?«
Kim hielt ihren Atem an, presste ihre verbrannte Hand und wartete. Und dann sprach Ruana.
»Doch, ja«, gab er zu, es war ein Seufzen, das wie ein Windhauch klang, der durch die Baumkronen streift. »Das habe ich gespürt, als ich Connla kommen sah, er sah so strahlend aus. Er war der einzige von uns, der jemals in die Welt jenseits dieses Bergpasses hinausgetreten ist, damals als er die Wilde Jagd in ihren langen Schlaf versetzte. Nach den Gesetzen unseres Volkes war dies eine Verfehlung, obwohl Owein ihn darum gebeten hatte. Dann schuf er noch den Kessel, um seine Tochter von den Toten zurückzuholen, eine heillose Missetat, die schließlich zu seiner Verbannung führte. Aber als ich heute sah, wie mächtig er unter unseren Toten war, wusste ich, dass eine Veränderung gekommen war.«
Kim keuchte, ein Schrei der Erleichterung riss sich aus ihrem Herz.
Ruana wandte sich zu ihr. Vorsichtig erhob er sich und stand in der Mitte des Ringes turmhoch über ihr. Er bat: »Verzeih mir meine Härte, sicher war es für dich ebenso kummervoll wie für uns.«
Sie schüttelte den Kopf, noch immer unfähig zu sprechen.
»Wir werden herabkommen«, fuhr er fort, »es ist Zeit. Wir werden diesen Ort verlassen und eine Rolle in den zukünftigen Geschehnissen spielen. Doch höre«, fügte er hinzu, »und lass dir gesagt sein: Wir werden nicht töten.«.
Daraufhin fand sie endlich ihre Worte wieder. Auch sie erhob sich. »Ich habe es gehört«, antwortete sie. Es war die Seherin von Brennin, die jetzt sprach. »Ich glaube nicht, dass das von euch erwartet wird. Ihr habt euch verändert, aber nicht so umfassend, und ich glaube, dass nicht all eure Gaben verloren sind.«
»Nicht alle«, echote er ernst, »Seherin, wohin sollen wir gehen? Nach Brennin? Andarien? Nach Eridu?«
»Eridu ist nicht mehr.« Faebur hatte zum ersten Mal gesprochen. Ruana wandte sich ihm zu. »Der Todesregen ist dort drei Tage lang gefallen. Bis heute morgen. In den Städten des Löwen ist sicherlich niemand am Leben geblieben.«
Kim sah, wie sich tief in Ruanas Augen etwas veränderte. »Ich weiß von diesem Regen«, bestätigte er, »wir alle wissen es. Er ist ein Teil unserer Erinnerungen. Es war ein Todesregen, mit dem die Verwüstung von Andarien begann. Damals ist er nur einige wenige Stunden gefallen. Maugrim war nicht so stark.«
Er kämpfte mit sichtbarer Anstrengung gegen seine Müdigkeit an und versuchte, sich gerade zu halten.
»Seherin, das ist die erste Rolle, die wir spielen werden. Mit dem Regen geht die Pest einher, und niemand kann nach Eridu zurückkehren, bevor nicht die Toten begraben sind. Aber die Pest kann den Paraiko nichts anhaben. Du hattest nicht unrecht: Wir haben nicht alles verloren, was uns der Weber gab, nur den Blutfluch und das Kanior, die aus den Frieden unserer Herzen gebildet waren. Wir haben aber auch andere magische Kräfte, und die meisten davon beziehen sich auf den Umgang mit dem Tod, wie es auch bei Connlas Kessel war.
Morgen früh werden wir von hier nach Osten ziehen, um das Land Eridu von seinen Regentoten zu reinigen, damit das Land wieder leben kann.«
Faebur sah zu ihm auf. »Ich danke dir«, flüsterte er. »Wenn irgendeiner von uns die Dunkelheit dieser Tage überlebt, so soll es nicht vergessen sein.« Er zögerte. »Wenn du zu dem größten Haus in der Einkaufsstraße von Akkaize kommst, so wirst du vielleicht eine junge, großgewachsene und schlanke Frau dort liegen sehen, deren Haar einst golden wie die Weizenfelder im Sonnenlicht glänzte … Ihr Name ist Arrian. Wirst du sie um meinetwillen sanft begraben?«
»So soll es sein«, versprach Ruana mit unendlichem Mitgefühl. »Und wenn wir uns wieder treffen, werde ich dir berichten, wo sie liegt.«
Kim drehte sich um und verließ den Kreis. Sie ging zum Rande des Plateaus, stand mit dem Rücken zu den anderen und blickte auf die dunklen Berge und die Sterne. Ihre Hand war von Brandblasen bedeckt und schmerzte bei jeder Berührung, auch ihre Seite tat von gestern noch weh. Der Ring war vollkommen erschöpft, er schien zu schlummern. Sie wusste, dass sie nun selbst Schlaf brauchte. Die Gedanken jagten einander in ihrem Kopf, und etwas anderes, was noch nicht klar genug war, um zum Gedanken zu werden, nahm allmählich Gestalt an.
Sie war klug genug, um die Vision, die
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