Das Kind des Schattens
unblutigen Riten vollziehen.« Seine Stimme war unendlich sanft. Aber Kim wusste, dass er es war, der stark genug gewesen war, um sie im Zentrum von Rakoths Plänen zu finden und zu beschützen.
Er warf einen kurzen Blick in die Runde der Ankömmlinge. »Sind das alle?« fragte er. Kim schaute sich um. Im Schatten und im Rauch war es schwer festzustellen, aber es waren ungefähr fünfundzwanzig Paraiko auf dem Plateau versammelt. Mehr nicht.
»Ja, alle«, bestätigte eine Frau.
»Alle.«
»Ja, Ruana«, echote eine dritte Stimme in kummervollem Ton. »Mehr sind nicht am Leben. Vollziehe jetzt das Kanior, das so lange aufgeschoben wurde, damit unser Wesen nicht verändert und Kath Meigol seiner Heiligkeit beraubt wird.«
In diesem Augenblick empfand Kim die erste Vorahnung. Die dunklen Webfäden ihres prophetischen Traumes wurden klar. Sie fühlte, dass sich ihr Herz wie eine Faust zusammenkrampfte und ihr Mund trocken wurde.
»Gut«, sagte Ruana, und dann wandte er sich mit äußerster Höflichkeit wieder zu ihr: »Möchtest du jemanden aussuchen, der mit uns betet? Für das, was ihr getan habt, wird es erlaubt sein.«
Kim entgegnete schwankend: »Wenn Sühne vonnöten ist, dann muss ich darum bitten. Ich werde die unblutigen Riten mit euch vollziehen.«
Ruana schaute aus seiner großen Höhe auf sie herab, blickte dann nacheinander alle anderen an. Sie hörte, wie sich Imrait-Nimphais unter dem Gewicht seines Blickes nervös hin und her bewegte.
»O Dana«, ließ sich Ruana vernehmen. Es war keine Beschwörung. Die Worte klangen, als wären sie an eine Gleichaltrige gerichtet. Es waren Worte des Vorwurfes, des Kummers. Wieder wandte er sich Kimberly zu. »Du sprichst richtig, Seherin. Ich denke, es ist deine Aufgabe. Die Geflügelte braucht keinen Ablass für das, was Dana sie tun ließ, dennoch muss ich um ihre Geburt trauern.«
Brock forderte ihn von neuem heraus und sah langsam zu ihm hoch. »Du hast uns hierher beschworen«, stellte der Zwerg klar. »Du hast ein Lied für die Seherin gesungen, und als Antwort darauf sind wir gekommen. Rakoth ist frei in Fionavar, Ruana von Paraiko. Möchtest du, dass wir uns alle in den Höhlen niederlegen und uns mit seiner Herrschaft abfinden?« Diese leidenschaftlichen Worte klangen hell in der Bergluft.
Aus den Reihen der Paraiko kam ein tiefer Ton.
»Hast du sie herbeigerufen, Ruana?« Es war die Stimme der ersten Frau, die gesprochen hatte, sie war aus der Höhle jenseits des Bergrückens gekommen. Noch immer auf Brock blickend, erwiderte Ruana: »Wir können nicht hassen. Wäre Rakoth, dessen Stimme ich in meinen Sinnen hörte, vollkommen aus der Geschichte der Zeit verschwunden, so würde mein Herz singen bis zum Tod. Aber wir können nicht Krieg führen. Wir sind nur zu passivem Widerstand fähig. Dies ist ein Teil unserer Natur, genauso wie in jenem Wesen, das herbeiflog, uns zu retten, Anmut und Töten innig verwoben sind. Dies zu ändern, hieße unsere eigentliche Existenz zu zerstören, wie auch den Blutfluch zu lösen, das Geschenk, das der Weber uns zum Schutz und zum Ausgleich gegeben hat. Seit Connla Owein gebunden hat und den Kessel schmiedete, haben wir Kath Meigol nicht verlassen.«
Seine Stimme war nicht immer leise, aber sie war jetzt tiefer als zuvor, als er aus der Höhle hervorkam. Sie näherte sich bereits dem Gesang, der, wie Kim wusste, bald folgen würde. Aber folgen würde auch etwas anderes, und sie wusste allmählich, was es sein würde.
Ruana fuhr fort: »Wir haben unsere eigene Beziehung zum Tod, wir hatten sie immer, seit wir auf dem Webstuhl gewirkt wurden. Ihr wisst, dass es Tod und Fluch bedeutet, unser Blut zu vergießen, aber es gibt noch mehr, was ihr nicht wisst. Wir legten uns in den Höhlen nieder, weil wir auf Grund unseres Wesens nichts anderes tun konnten.«
»Ruana«, ertönte von neuem die Stimme der Frau, »hast du sie herbeigerufen?«
Und jetzt wandte er sich ihr zu, so langsam, als trage er eine große Bürde.
»Ja, Iera. Es tut mir leid. Ich will es im Kanior singen und in den Riten um Vergebung bitten. Wenn es mir jedoch nicht gelingt, werde ich ebenso wie Connla Kath Meigol verlassen, damit diese Übertretung einzig und allein auf meinen Schultern liege.« Dann erhob er seine Hände hoch im Mondlicht über seinen Kopf. Es fielen keine weiteren Worte, das Kanior begann.
Es war ein Trauergesang, der in den alten Zauber eingewebt war, unvorstellbar alt, denn die Paraiko hatten in Fionavar geweint, lange bevor
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