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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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hatte die seidige Mähne gestreichelt. Nun trat sie zurück, und gerade in diesem Augenblick verdichtete sich plötzlich die Vision, die ihr, am Rande ihres Bewusstseins treibend, unzugänglich geblieben war. Und nun wusste sie mit einem Male, wohin sie gehen musste. Sie blickte auf den Baelrath, er war dumpf und kraftlos. Das überraschte sie nicht. Diese neue Wahrnehmung kam von der Seherin in ihr, der Seele, die sie mit Ysanne teilte.
    Sie zögerte und blickte zu Tabor auf. »Um eines muss ich dich noch bitten. Wird sie mich wohl tragen? Ich habe einen langen Weg vor mir und nicht genug Zeit.«
    Sein Blick war bereits fern, aber verständig und ruhig.
    »Ja, sie wird dich tragen«, versicherte er. »Du kennst ihren Namen. Wir werden dich bringen, Seherin, wohin du auch gehen musst.« Dann war die Zeit des Abschieds gekommen. Sie blickte hinüber und sah ihre drei Führer nicht weit entfernt beieinander stehen.
    »Wohin werden wir gehen?« fragte Faebur.
    »Nach Celidon«, antwortete sie. Einiges wurde ihr bereits klarer, als sie noch hier stand, und sie empfand die Dringlichkeit. »Ein Kampf hat stattgefunden, und dort werdet ihr das Heer finden, jene jedenfalls, die überlebt haben.«
    Sie blickte auf Dalreidan, der noch zögerte und sich zurückhielt. »Mein Freund«, sprach sie so laut, dass alle es hören konnten. »Heute morgen hast du zu Faebur etwas gesagt, was mir richtig schien: Niemand in Fionavar ist jetzt mehr ein Verbannter. Geh nach Hause, Dalreidan, und trage wieder deinen ursprünglichen Namen in der Ebene und erkläre ihnen, dass die Seherin von Brennin dich geschickt hat.«
    Einen Augenblick lang blieb er reglos stehen, widerstrebend. Dann nickte er langsam. »Werden wir uns wieder treffen?«
    »Ich hoffe«, sagte sie und trat nach vorne, um ihn zu umarmen und dann auch Faebur. Sie blickte auf Brock. »Und du?« fragte sie.
    »Ich werde mit ihnen gehen«, antwortete er. »Bis mein eigener König zurückkehrt, werde ich dem Aven und dem Hochkönig dienen, so gut ich kann. Wirst du auch vorsichtig sein, Seherin?« Seine Stimme war schroff.
    Sie trat näher auf ihn zu und kontrollierte gewohnheitsmäßig den Verband, den sie um seinen Kopf gewickelt hatte. Dann neigte sie sich herab und küsste ihn auf die Lippen. »Du auch«, flüsterte sie, »mein Lieber.«
    Zuletzt wandte sie sich Ruana zu, der auf sie gewartet hatte. Sie brauchten keine Worte.
    Dann hörte sie ihn in ihrem Geist murmeln: Der Weber halte deinen Faden fest in der Hand, Seherin.
    Das hatte sie mehr als alles andere noch hören müssen … es war die letzte Verzeihung, auf die sie kein Recht hatte. Sie blickte hinauf zu seinem großen Patriarchenkopf mit dem weißen Bart, blickte in seine weisen Augen, die soviel gesehen hatten. Und die eurigen, antwortete sie schweigend. Deinen Faden und den deines Volkes.
    Dann ging sie zurück, Tabor wartete schon, sie stieg hinter ihm auf Imrait-Nimphais, nannte ihm ihr Ziel, und schon flogen sie.
    Es fehlten noch einige Stunden bis zur Dämmerung, als sie Kim absetzten. Es war kein Kriegsschauplatz, sondern der einzige Ort in Fionavar, wo sie einen Augenblick des Friedens erlebt hatte, ein ruhiger Platz, ein See wie ein Juwel, auf den das Mondlicht blickte. Ein Cottage am Rande des Sees.
    Kaum war sie abgestiegen, da schwebte er bereits wieder in der Luft. Sie wusste, dass er wieder zurück sein wollte. Sein Vater hatte ihm einen Auftrag gegeben, und sie hatte ihn zweimal davon abgehalten.
    »Danke«, sagte sie. Das war das einzige, was ihr einfiel. Sie hob ihre Hand zum Abschiedsgruß.
    Als er ihr ebenso antwortete, sah sie mit Kummer, dass das Mondlicht und die Sterne durch ihn hindurchschienen. Dann breitete Imrait-Nimphais ihre Schwingen aus, und sie und ihr Reiter waren verschwunden. Noch ein Stern einen Augenblick lang, und dann nichts mehr.
    Kim betrat das Cottage.



 
Kapitel 4
     
    Paul lehnte sich zurück gegen die Reling des Achterdecks und beobachtete, wie Lancelot sich mit seinem Schatten duellierte. Fast den ganzen gestrigen Tag, seit sie von Cader Sedat aus in See gestochen waren, hatte er es getan, und hatte dann auch den größten Teil dieses zweiten Morgens bis in den Nachmittag hinein damit verbracht. Die Sonne war nun hinter ihnen, Lancelot kehrte ihr den Rücken zu, glitt nach vorn, wich zurück an Deck, seine Füße drehten sich in komplizierten Wendungen, sein Schwert war ein verschwommenes Zittern von Stößen und Abwehrparaden, zu schnell, als dass man es mit dem Auge

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