Das Kind des Schattens
da kommen würde, nicht zu erzwingen, deshalb war sie weggegangen, um im Dunklen zu warten.
Hinter sich vernahm sie Stimmen. Sie drehte sich nicht um, aber da sie nicht weit entfernt waren, konnte sie nicht umhin, sie zu hören.
»Verzeih mir«, sagte Dalreidan und hustete nervös, »aber man hat mir gestern erzählt, dass die Frauen und Kinder der Dalrei im letzten Lager am Latham allein zurückgelassen wurden. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt«, antwortete Tabor. Seine Stimme klang fern und dünn, aber er antwortete dem Ausgestoßenen mit Höflichkeit. »Alle Reiter von der Ebene sind nach Norden, nach Celidon gegangen. Vor drei Nächten ist ein Heer der Finsternis gesehen worden, das durch Andarien zog. Der Aven hat versucht, ihnen am Adein zuvorzukommen.«
Davon hatte Kim nichts gewusst, sie schloss ihre Augen und versuchte, die Entfernung und die Zeit einzuschätzen, aber es gelang ihr nicht. Sie sprach ein inneres Gebet an die Nacht. Wenn die Dalrei verloren waren, dann würde auch alles, was sie noch tun würden, bedeutungslos sein.
»Der Aven!« rief Dalreidan leise aus. »Wir haben einen Aven? Wer ist es?«
»Ivor dan Banor«, beschied ihm Tabor, und Kim konnte seinen Stolz hören. »Mein Vater.«
Als der andere weiter schwieg, fragte er dann: »Kennst du ihn?«
»Ich kannte ihn«, entgegnete Dalreidan. »Wenn du sein Sohn bist, musst du Levon sein.«
»Nein, Tabor. Levon ist mein älterer Bruder. Woher kennst du ihn? Von welchem Stamm bist du?«
In dem nun folgenden Schweigen konnte Kim fast hören, wie der ältere Mann mit sich kämpfte. Aber alles, was er sagte, war: »Ich bin ohne Stamm.« Seine Schritte verklangen, als er zum Kreis der Riesen zurückging.
Sie war nicht die einzige, dachte Kim, die in dieser Nacht Leiden ertragen musste. Das Gespräch hatte sie verstört, es hatte noch einen weiteren quälenden Faden am Rande ihres Bewusstseins aufgewühlt. Sie wandte ihre Gedanken wieder nach innen, um Ruhe zu suchen.
»Geht es dir gut?«
Imrait-Nimphais bewegte sich leise. Dass Tabors Stimme sie so berührte, verblüffte sie. Diesmal drehte sie sich um, sie war dankbar über die Freundlichkeit der Frage. Sie war sich schmerzlich bewusst, was sie ihnen angetan hatte. Um so mehr, wenn sie auf Tabor blickte. Er war totenblass, fast war er noch ein Geist mehr in Kath Meigol.
»Ich glaube schon«, antwortete sie. »Und wie geht es dir?«
Er zuckte die Achseln, es war eine knabenhafte Geste. Aber er war soviel mehr, er war gezwungen worden, soviel mehr zu sein. Sie blickte auf das Wesen, auf dem er ritt, und sah, dass das Horn wieder rein war und sanft in der Nacht schimmerte.
Er folgte ihrem Blick. »Während des Kanior«, sagte er mit Staunen in seiner Stimme, »während Ruana sang, ist das Blut von ihrem Horn verschwunden. Wie, das weiß ich nicht.«
»Er hat euch von der Schuld befreit«, erklärte sie, »das Kanior ist eine starke magische Kraft.« Sie hielt inne. »Es war«, verbesserte sie sich sogleich. Sie hatte es ja beendet. Sie blickte wieder zu den Paraiko zurück. Diejenigen von ihnen, die noch gehen konnten, brachten den anderen Wasser von jenseits des Bergrückens. Es floss dort nur ein Rinnsal oder eine Quelle. Ihre Gefährten halfen ihnen. Sie sah ihnen zu und begann schließlich zu weinen.
Und plötzlich senkte Imrait-Nimphais unerwartet ihren schönen Kopf, sie tat es vorsichtig wegen ihres Hornes, und beschnupperte sie sanft. Diese Geste löste die letzten Schleusen von Kims Herz. Durch ihre Tränen blickte sie zu Tabor hoch und sah, dass er zustimmend nickte. So warf sie die Arme um den Hals dieses herrlichen Wesens, das sie gerufen und dem sie zu töten befohlen hatte, sie legte ihren Kopf gegen den von Imrait-Nimphais und ließ ihren Tränen freien Lauf. Niemand störte sie, niemand kam näher. Nach einiger Zeit, sie wusste nicht, wie lange es gewesen war, trat Kim zurück. Sie blickte zu Tabor auf. Er lächelte. »Weißt du«, sagte er, »dass du ebensoviel weinst wie mein Vater?«
Zum ersten Mal seit Tagen lachte sie, und Ivors Sohn lachte mit ihr. »Ich weiß«, keuchte sie, »ich weiß es. Ist es nicht schrecklich?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn jemand das zu tun vermag, was du getan hast«, stellte er in ruhigem Ton richtig. Ebenso schnell wie er erschienen war, verschwand der knabenhafte Ausdruck wieder. Es war nun der Reiter von Imrait-Nimphais, der sagte: »Wir müssen gehen. Ich habe die Lager zu bewachen und bin schon zu lange weg gewesen.«
Sie
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