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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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hätte verfolgen können.
    Fast alle auf der Prydwen hatten ihn einige Zeit beobachtet, entweder heimlich oder, wie Paul, mit offener Bewunderung.
    Endlich war es ihm gelungen, einige der disziplinierten Bewegungsmuster, die Lancelot vollzog, zu erkennen. Und als er immer weiter zusah, begriff er auch noch etwas anderes.
    Bei einem Mann, der gerade erst aus der Totenkammer erweckt worden war, war dies mehr als bloßes Training. In diesen unablässigen, fast zwanghaften Wiederholungen hatte Paul allmählich erkennen können, dass Lancelot, so gut er konnte, die Emotionen verbarg, die in ihm aufstiegen.
    Er beobachtete, wie der dunkelhaarige Mann seine systematischen Übungen ohne Aufhebens oder irgendeine vergeudete Bewegung durchexerzierte. Jetzt wie auch sonst immer hatte Lancelot eine gewisse Ruhe an sich, er glich einem stillen Teich, in dem der Wellenschlag des turbulenten Lebens mühelos absorbiert wurde. Auf irgendeiner Ebene war dies tief berührend, und diese Beruhigung war von jenem Augenblick an spürbar, als er zu ihnen gekommen war, er, der aus seiner steinernen Ruhestätte auferstanden war und auch Matt Sören von den Toten zurückgebracht hatte.
    Paul Schafer war jedoch zu klug, um nicht zu wissen, dass dies nicht die einzige Ebene seiner Wandlung war. Er war Pwyll, der Zweimal Geborene, er hatte zu Göttern gesprochen und sie beschworen, er hatte drei Nächte auf dem Sommerbaum verbracht, und die Raben von Mörnir waren ihm niemals fern. Die Prydwen segelte wieder zum Krieg zurück, und Lancelots Übungen passten zu der Rolle, die er spielen würde, wenn sie an Land gingen.
    Doch die Fahrt ging auch zurück zu etwas anderem, zu jemand anderem: zu Guinevere.
    So diszipliniert Lancelots zwanghafte physische Aktivität auch sein mochte, so konnte Paul die Wahrheit darin doch so klar lesen wie in einem Buch, und die Themen des Buches waren absolute Liebe und absoluter Betrug und eine Traurigkeit, die das Herz erstickte.
    Arthur Pendragon, der zusammen mit Cavall am Vordersteven stand und nach Osten blickte, war der einzige auf dem Schiff, der von Lancelots Schattenduell keinen Augenblick Notiz genommen hatte. Die beiden Männer hatten nicht gesprochen, seit sie aus dem Trümmerhaufen von Cader Sedat entkommen waren. Zwischen ihnen war kein Hass, nicht einmal Zorn oder offene Rivalität, soweit Paul sehen konnte. Statt dessen aber sah er, dass sie ihr Selbst schützten und abschirmten, dass sie ihre Herzen fest am Zügel hatten.
    Paul erinnerte sich – und er wusste, er würde es niemals mehr vergessen –, was sie miteinander auf der Insel geredet hatten: Lancelot, der gerade erst erweckt worden war, fragte mit äußerster Höflichkeit: Warum habt Ihr das, mein Herr, uns Dreien angetan?
    Und Arthur entgegnete ganz am Ende, auf der Schwelle dieser blutigen zertrümmerten Halle: O Lance, komm. Sie wird wohl schon auf dich warten.
    Kein Hass, keine Rivalität also, sondern etwas viel Schlimmeres: Liebe, die in sicherem prophetischen Wissen der zukünftigen Geschehnisse nicht zugelassen wurde. Es gehörte zu der Geschichte, die wieder einmal durchgespielt wurde wie schon so oft, wenn die Prydwen wieder an Land gehen würde.
    Paul wendete seine Augen ab von dieser flüssigen, hypnotischen Gestalt, die sich auf dem Deck hin und her bewegte und dieselben makellosen Rituale der Klinge immer wieder von neuem wiederholte. Er wandte sich ab und blickte über die Reling aufs Meer. Er wurde sich darüber klar, dass auch er sein Herz verteidigen musste, er konnte es sich nicht leisten, sich im Trauergewebe dieser drei Menschen zu verlieren. Er hatte seine eigene Bürde, sein eigenes Schicksal, das auf ihn wartete, seine eigene Rolle, die er spielen musste, und seine eigene schreckliche unausgesprochene Angst. Und diese Angst hatte einen Namen, den Namen eines Kindes, das nicht mehr Kind war; jener Knabe war es, der gerade vor einer Woche im Götterwald den größten Teil des Weges zum Erwachsenenalter und zu seiner Macht zurückgelegt hatte. Es war Jennifers Sohn, Jennifers und Rakoth Maugrims Sohn.
    Darien war sein Name. Er hieß nicht mehr Dari, nicht seit jenem Nachmittag beim Sommerbaum. Als kleiner Junge, der gerade erst gelernt hatte, flache Kiesel über die Oberfläche eines Sees schnellen zu lassen, war er zu diesem Ort gelangt. Aber als er fortging, war er anders geworden: älter, wilder, verwirrt, entfremdet, unvorstellbar mächtig, er gebot dem Feuer, er veränderte seine Gestalt. Er war der Sohn des

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