Das Kind des Schattens
Schreckens gewesen war: Seine Augen waren rot gewesen.
Jetzt waren sie blau, und er schien sehr jung zu sein, obwohl er eigentlich noch viel jünger hätte sein müssen. Aber Jennifers Kind, das vor weniger als einem Jahr geboren worden war, stand vor ihr, blickte unbehaglich, unstet im Zimmer umher und sah aus, wie irgendein anderer Fünfzehnjähriger auch aussehen konnte … wenn er so schön sein konnte und so viel Macht in sich tragen konnte wie dieser Knabe.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?« fragte er unvermittelt. Seine Stimme war unbeholfen, wenig geübt.
Sie versuchte, den Herzschlag willentlich zu verlangsamen; in dieser Situation musste sie ruhig sein und ihre ganze Geistesgegenwart zur Verfügung haben. »Ich habe dich gehört«, antwortete sie.
»Ich dachte, ich sei ganz leise gewesen.«
Es gelang ihr zu lächeln. »Das warst du auch, Darien, aber ich höre sehr gut. Wenn deine Mutter spät nachts zu mir ins Zimmer kam, hat sie mich immer aufgeweckt, so leise sie auch war.«
Ihre Blicke begegneten sich, und für kurze Zeit blieben seine Augen auf ihr ruhen. »Du kennst meine Mutter?«
»Ich kenne sie sehr gut. Ich habe sie herzlich lieb.«
Er trat ein paar Schritte vorwärts in den Raum, blieb aber zwischen ihr und der Treppe. Sie wusste nicht, ob er sich auf diese Weise selbst den Rückweg sichern oder ihr den Weg versperren wollte. Wieder blickte er um sich.
»Ich habe nie von diesem Raum hier unten gewusst.«
Ihre Rückenmuskel waren hart gespannt. »Er hat der Frau gehört, die hier vor dir gelebt hat«, erklärte sie.
»Warum?« fragte er herausfordernd. »Wer war sie? Warum ist dieser Raum unter der Erde?« Er trug einen Sweater, Hosen und rehbraune Stiefel. Auch sein Sweater war braun, aber er war für den Sommer zu warm und außerdem zu groß für ihn. Er könnte Finn gehört haben, dachte sie. Seine ganze Kleidung wahrscheinlich. Ihr Mund war trocken. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Sie war eine sehr weise Frau, und sie hatte sehr viele Dinge, die sie in diesem Raum liebte, deshalb hielt sie ihn verborgen … um ihn zu schützen.«
In ihrer Hand lag der Reif, und obwohl er klein und zierlich war und fast kein Gewicht hatte, schien ihr, als trage sie mit ihm das Gewicht aller Welten.
»Was für Dinge?« fragte Darien.
Und dies war nun der Zeitpunkt:
»Das hier«, sagte Kim und hielt ihm den Reif hin, »und er ist für dich, Darien. Er war für dich bestimmt. Es ist der Reif von Lisen.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie hielt inne. Er wartete schweigend und beobachtete sie. Sie fügte hinzu: »Es ist das Licht gegen die Finsternis.«
Ihre Stimme ließ sie im Stich. Die hohen, heroischen Worte drangen in das kleine Zimmer und verschwanden im Schweigen.
»Weißt du, wer ich bin?« fragte Darien. Er hatte seine herabhängenden Hände zur Faust geballt und trat noch einen Schritt auf sie zu. »Weißt du, wer mein Vater ist?«
Soviel Schrecken. Aber das hatte sie bereits geträumt, und es war sein Schrecken. Sie nickte. »Ja«, flüsterte sie. Und da sie dachte, in seiner Stimme Unsicherheit und nicht Herausforderung gehört zu haben, fuhr sie fort: »Und ich weiß, dass deine Mutter stärker war als er.« Sie wusste es nicht wirklich, aber dies war das Gebet, die Hoffnung, der Lichtstreifen, an den sie sich klammerte. »Er wollte, dass sie sterben sollte, damit du nicht geboren würdest.«
Er trat wieder einen Schritt zurück. »Das wusste ich nicht«, gab er zu. »Cernan hat gefragt, warum ich leben durfte. Ich habe es gehört. Alle scheinen einer Meinung zu sein.« Seine Hände öffneten und schlossen sich krampfartig.
»Nicht alle«, verbesserte sie ihn, »nicht alle, Darien. Deine Mutter wollte, dass du geboren würdest. Sie wollte es unbedingt.« Sie musste so vorsichtig sein, es war so wichtig. »Paul oder Pwyll, der hier mit dir gewohnt hat, setzte sein Leben aufs Spiel, um sie zu beschützen und sie in jener Nacht, als du geboren wurdest, hierher in Vaes Haus zu bringen.«
Dariens Ausdruck veränderte sich, es war, als wäre eine Tür vor ihr zugefallen. »Er hat in Finns Bett geschlafen«, presste er hervor, unmissverständlich und anklagend.
Sie schwieg. Was konnte sie schon sagen?
»Gib es mir«, forderte er.
Was konnte sie tun? Jetzt, da die Zeit gekommen war, schien alles so unausweichlich. Wer außer diesem Kind konnte den Dunkelsten Weg gehen? Er befand sich bereits auf ihm. Bei keinem anderen konnte die Einsamkeit so tief reichen, bei
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