Das Kind des Schattens
Sees geschah. Sie kniete nieder und wusch ihr Gesicht in dem kühlen, klaren Wasser. Sie setzte sich auf ihre Fersen und ließ die Wassertropfen, die auf ihren Wangen glitzerten, vom Sonnenlicht trocknen. Es war sehr still. Weit draußen im See tauchte ein Eisvogel ins Wasser und stieg dann vom Licht erfasst wieder auf, flog blitzend nach Süden.
An diesem Ufer war sie einst gestanden – fast ein Lebensalter war es her, so schien es ihr –, sie hatte Kieselsteine ins Wasser geworfen, sie war von den Worten, die Ysanne im Cottage, unter dem Cottage gesprochen hatte, geflohen.
Damals war ihr Haar noch braun gewesen. Sie war eine Assistenzärztin aus Toronto gewesen, ein Fremdling in einer neuen Welt. Jetzt hatte sie weiße Haare, sie war die Seherin von Brennin, und auf der anderen Seite des Abgrundes hatte sie in ihrem Traum eine Straße gesehen, die in die Ferne führte, und auf dieser Straße war jemand vor ihr gestanden. Schimmernd und blitzend sprang ein gefleckter Fisch aus dem See. Die Sonne stand hoch am Himmel, zu hoch, noch während sie an diesem Ufer verweilte, eilten die Schiffchen auf dem Webstuhl.
Kimberly erhob sich und ging zurück zum Cottage. Sie schob den Tisch ein wenig zur Seite, legte die Hand auf den Fußboden und sprach ein Wort der Kraft.
Zehn Stufen führten nach unten. Die Wände waren feucht, Fackeln gab es nicht, aber von unten her schimmerte immer noch das perlenartige Licht, an das sie sich so gut erinnern konnte. Wie zur Antwort begann der Baelrath auf ihrem Finger zu flimmern. Dann erreichte sie den Boden und stand wieder in der Kammer mit ihrem Webteppich, dem Schreibpult, dem Bett, dem Stuhl und all den nötigen Büchern.
Und dann in der entfernteren Wand die Glastüren, die zu jenem Kabinett führten, in dem Lisens Reif lag, von dem der milde Lichtschein kam.
Sie ging hinüber und öffnete die Türen des Kabinetts. Lange stand sie bewegungslos und blickte auf das Gold der Fassung und den schimmernden Stein hinab. Es war die schönste Schöpfung der Lios Alfar, war in Liebe und Kummer für das schönste Kind aller Welten des Webers von den Kindern des Lichts geschaffen worden.
Das Licht gegen die Finsternis, so hatte Ysanne ihn genannt. Kim erinnerte sich, dass sie gesagt hatte, er habe sich verändert: Seit Lisens Tod schien die anfängliche Farbe der Hoffnung milder und schwächer. Wenn Kim an Ysanne dachte, empfand sie sie so intensiv, als sei sie körperlich zugegen. Sie hatte den Eindruck, dass sie ihre Arme um den gebrechlichen Körper der alten Seherin legte, wenn sie sich selbst umarmte.
Das war natürlich eine Illusion, doch erinnerte sie sich an etwas anderes, das mehr als illusorisch war: an die Worte von Raederth, dem Magier, den Ysanne geliebt hatte, der auch sie geliebt hatte; er war es gewesen, der den Reif trotz der langen Jahre, in denen er verloren gewesen war, wieder gefunden hatte.
Wer nach Lisen als nächster diesen Reif trägt, hatte Raederth prophezeit, wird den dunkelsten Weg gehen müssen, den ein Kind der Erde oder der Sterne jemals vor sich hatte.
Diese Worte hatte sie in ihrem Traum vernommen. Sie streckte den Arm aus und hob den Reif mit unendlicher Sorgfalt von seinem Platz.
Aus dem Raum über ihr hörte sie ein Geräusch.
Ein Schrecken, der noch schärfer war, als in ihrem Traum, explodierte in ihr. Was bis jetzt nur eine Vorahnung gewesen war, und deshalb noch etwas fern, war jetzt und über ihr gegenwärtig. Und die Zeit war gekommen.
Sie wandte sich zur Treppe und rief: »Wenn du willst, kannst du herabkommen, ich habe auf dich gewartet.« Sie hielt ihre Stimme so ruhig wie möglich, sie wusste, wie gefährlich es sein würde, Angst zu zeigen.
Schweigen. Ihr Herz donnerte, trommelte. Einen Augenblick lang sah sie wieder den Abgrund, die Brücke und die Straße. Dann erklangen Schritte auf den Stufen.
Und dann erschien Darien. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Einen Augenblick lang empfand sie schreckliche Verwirrung, hinter der alles verschwand. Sie wusste nichts von den Geschehnissen, die sich auf der Lichtung beim Sommerbaum abgespielt hatten. Eigentlich müsste er doch noch ein Kind sein, obwohl ein Teil in ihr wusste, dass er es nicht war und nicht sein konnte. In ihrem Traum war er nur eine schattenhafte, schwach umrissene Gegenwart gewesen, ein Name, den sie in Toronto gehört hatte, noch bevor er geboren wurde. Sie hatte ihn durch die Aura des Namens gekannt, wie auch durch einen anderen Umstand, der die tiefste Quelle ihres
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