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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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gehen?«
    Jaelle nickte. »Ich muss einiges mit ihr besprechen.«
    »Haben wir Pferde hier? Lasst uns aufbrechen.«
    Die Hohepriesterin lächelte dünn. »So einfach? Es gibt«, murmelte sie mit ausgesuchter Genauigkeit, »einen Unterschied zwischen Unabhängigkeit und Unverantwortlichkeit, meine Liebe. Du bist die Erbin deines Vaters und … oder hast du es vergessen? … mit dem Erben von Brennin verlobt. Und auf mir liegt die Hälfte der Regierungsgewalt in diesem Reich. Außerdem … oder hast du auch das vergessen? … sind wir im Krieg. Auf diesem Weg sind vor einem Jahr Svart Alfar erschlagen worden. Wir werden eine bewaffnete Eskorte für dich vorbereiten müssen, wenn du mit mir kommen willst, Prinzessin von Cathal. Entschuldige mich bitte, ich muss mich um die Einzelheiten kümmern.«
    Und sie schob sich auf dem Kiesweg rasch an Sharra vorbei. Rache, dachte die Prinzessin reumütig. Sie hatte auf sehr privatem Terrain ihre Grenzen überschritten und dafür nun den Preis bezahlt. Außerdem hatte Jaelle ja auch recht. Dadurch aber wurde die Zurechtweisung nur noch beißender. Sie versank in Gedanken, drehte sich um und folgte der Hohenpriesterin, die zum Tempel zurückkehrte.
    Schließlich dauerte es eine geraume Zeit, bis die kurze Expedition begann, bis man auf die Straße zum See gelangte, und vor allem deswegen, weil der dicke, groteske Tegid, den Diarmuid als Brautwerber bei ihrer Eheangelegenheit gewählt hatte, ihr nicht erlauben wollte, ohne ihn zu reiten, selbst wenn eine Priesterin und eine Wache sowohl aus Brennin wie auch aus Cathal sie begleitete.
    Und da es in der Hauptstadt nur ein Pferd gab, das groß genug war, das Martyrium unter Tegids Massen zu überleben, und da dieses Pferd in den Baracken der Südfeste auf der anderen Seite von Paras Derval stand …
    Als sie schließlich auf dem Weg waren, war es schon fast Mittag, und deshalb kamen sie auch zu spät, um bei allem, was geschah, eingreifen zu können.
     
    In den frühen Morgenstunden dieses Tages lag Kimberly noch schlafend im Cottage an dem See, und im Traum überquerte sie eine schmale Brücke, die über einen Abgrund voll namenloser, gestaltloser Schrecken führte, und als sie dann auf der anderen Seite stand, kam eine Gestalt auf sie zu, und der Schrecken wuchs in ihr an diesem einsamen, stickigen Ort wie ein deformiertes Ungeheuer.
    Ohne aufzuwachen warf sie sich auf ihrem Strohsack heftig von einer Seite zur anderen, hob ihre Hand wie zur Abwehr. Zum ersten und einzigen Mal kämpfte sie gegen ihre seherische Vision, sie strengte ihre Kräfte an, um das Bild jener Figur, die da bei ihr stand, zu verändern. Sie wollte die Maschen, die auf dem Webstuhl in die Zeit gesponnen waren, verwandeln, und nicht nur vorhersehen. Aber es war zwecklos.
    Durch diesen Traum hatte Ysanne Kim zur Seherin gemacht und gleichzeitig für sich selbst darauf verzichtet. Das hatte sie gesagt. Deshalb gab es hier keine Überraschungen, sondern nur Schrecken und Ablehnung sowie Hilflosigkeit angesichts dieser umfassenden Unausweichlichkeit.
    Schließlich beendete die Schläferin ihren Kampf, die erhobene, abwehrende Hand fiel zurück. In ihrem Traum stand sie ruhig auf der anderen Seite des Abgrundes und blickte der Situation ins Auge. Diese Begegnung hatte von Anfang an auf sie gewartet. Sie war ebenso wirklich, wie irgend etwas nur wirklich sein konnte und wirklich gewesen war. Und so hatte nun mit diesem Traum, mit der Überquerung der Brücke, das Ende begonnen.
     
    Es war spät geworden, als sie endlich erwachte. Nach dem Traum war sie in einen tieferen, heilsameren Schlaf gefallen, den ihr erschöpfter Körper so notwendig brauchte. Nun lag sie noch ein wenig im Bett und sah, wie das Sonnenlicht durch die offenen Fenster hereinströmte. Sie war für die kleine Gnade der Ruhe an diesem Ort zutiefst dankbar. Draußen sangen Vögel, und der leichte Wind trug Blumendüfte. Sie konnte hören, wie der See gegen das felsige Ufer schlug.
    Sie erhob sich und ging in die strahlende Helligkeit des Tages hinaus. Sie schritt den vertrauten Pfad bis zu dem breiten, flachen Felsen hinab, der über den See hing. Dort hatte sie gekniet, als Ysanne ein Bannion in das mondbeschienene Wasser warf und Eilathen beschwor, damit er sich für sie um seine Eigenachse drehe.
    Sie wusste, dass er jetzt da unten war, tief in seinen Hallen aus Stein und Algen, dass er von dem Bann des Blütenfeuers entbunden war und sich nicht darum kümmerte, was über der Oberfläche seines

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