Das Kind des Schattens
behagt ihnen nicht … aber immer waren einige von ihnen da, und diese Blumen hier scheinen sogar den Winter und die Trockenheit überlebt zu haben.«
Sharra sah sie an. »Das bedeutet dir nichts, oder?« wunderte sie sich. »Gibt es überhaupt irgend etwas, was für dich Bedeutung hat?«
»Bezogen auf Blumen?« Jaelle hob ihre Augenbrauen. Dann antwortete sie nach einer Pause: »Ja, es gab wirklich Blumen, die mir etwas bedeuteten: Es waren die außerhalb von Dun Maura, als der Schnee zu schmelzen begann.«
Sharra erinnerte sich. Rot, blutrot waren sie gewesen wegen des Opfers. Wieder blickte sie auf ihre Begleiterin. Es war ein warmer Morgen, aber in ihrem weißen Kleid sah Jaelle eiskalt aus, und ihre Schönheit hatte etwas Scharfes, Schneidendes an sich. Auch Sharra war nicht gerade sanft oder gutmütig. Und der Mann, den sie heiraten würde, sollte sein ganzes Leben lang eine Narbe tragen: da, wo sie das Messer auf ihn geworfen hatte. Aber bei Jaelle war das anders, und sie fand es unausstehlich.
»Natürlich«, murmelte die Prinzessin von Cathal. »Jene Blumen mussten dir etwas bedeuten. Aber sonst? Muss denn alles und jedes um und durch die Göttin kreisen, damit es dich erreicht?«
»Alles kreist tatsächlich um und zu ihr zurück«, entgegnete Jaelle automatisch. Dann aber wurde sie ungeduldig. »Warum stellen mir alle solche Fragen? Was erwartet ihr eigentlich alle konkret von der Hohenpriesterin der Dana?« Ihre Augen, grün wie Gras im Sonnenlicht, hielten Sharras Blick herausfordernd fest.
Angesichts dieser Herausforderung bedauerte Sharra bereits, dass sie davon angefangen hatte. Sie war noch immer zu ungestüm, und das ließ sie oft ihre eigene Tiefe verlieren. Schließlich war sie nur ein Gast im Tempel »Also …« begann sie, sich entschuldigend.
Und wurde unterbrochen. »Wirklich!« rief Jaelle aus. »Ich habe keine Ahnung, was die Leute von mir wollen. Ich bin Hohepriesterin, ich muss Kräfte kanalisieren, die Mormae kontrollieren, und Dana weiß, dass das bei Audiart keine leichte Aufgabe ist. Ich muss auf die Rituale achten und Rat erteilen. Nun, da der Hochkönig nicht hier ist, muss ich zusammen mit dem Kanzler ein Königreich regieren. Wie sollte ich denn anders sein, als ich bin? Was wollt ihr denn alle von mir?«
Zu Sharras Erstaunen musste sie sich abwenden, zu den Blumen hinüberblicken, um ihr Gesicht zu verbergen. Sharra war verwirrt und einen Augenblick lang gerührt. Aber sie stammte aus einem Land, wo Scharfsinn lebensnotwendig war, und sie war die Tochter und Erbin des Höchsten Herrn von Cathal. »Du sprichst im Grunde gar nicht mit mir, oder?« erkundigte sie sich ruhig. »Wer waren die anderen?«
Einen Augenblick später drehte sich Jaelle, die sonst, wie es schien, niemals den Mut verlor, zu ihr zurück. Die grünen Augen waren trocken, aber es stand eine Frage in ihrer Tiefe.
Sie hörten Schritte auf dem Weg.
»Ja, Leila?« sagte Jaelle, noch bevor sie sich umwandte. »Was ist? Und warum betrittst du immer wieder Orte, wo du nichts verloren hast?« Die Worte waren streng, der Tonfall jedoch nicht … überraschenderweise.
Sharra blickte auf das schmächtige Mädchen, das in echtem Schmerz geschrien hatte, als die Wilde Jagd am Himmel flog. Leila schien ein wenig, aber nicht allzu unsicher.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Aber ich glaubte, du würdest es wissen wollen. Die Seherin ist in jenem Cottage, wo Finn und seine Mutter mit dem Kleinen wohnten.«
Jaelles Ausdruck änderte sich sofort. »Kim? Wirklich? Bist du mit dem Ort selbst in Verbindung, Leila?«
»Ich glaube, ja«, antwortete das Mädchen ernsthaft, als ob es das Normalste auf der Welt wäre.
Jaelle ließ ihren Blick lange Zeit auf ihr weilen, und Sharra, die nur halb verstand, sah Mitleid in den Augen der Hohenpriesterin.
»Sag mir«, fragte Jaelle das Mädchen sanft, »siehst du Finn jetzt? Wo reitet er?«
Leila schüttelte den Kopf. »Nur, als sie beschworen wurden. Da habe ich ihn gesehen, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Es war … zu kalt. Und da, wo sie jetzt sind, ist es auch zu kalt für mich. Ich kann ihnen nicht folgen.«
»Versuch es nicht, Leila«, riet ihr Jaelle ernst. »Versuch es am besten gar nicht.«
»Mit Versuchen hat das nichts zu tun«, entgegnete das Mädchen einfach, und irgend etwas in diesen Worten ließ auch bei Sharra Mitleid aufkommen: Sie nahm es ruhig hin.
Zu Jaelle gewandt aber fragte sie: »Wenn Kim in der Nähe ist, können wir dann zu ihr
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