Das Kind des Schattens
hätte, streckte Sharra ihre Hand aus und drückte die ihrige. Kim erwiderte den Händedruck und sagte: »Tabor hat mir erzählt, dass der Aven und alle Dalrei vor drei Nächten nach Celidon geritten sind, um ein Heer der Finsternis zu treffen. Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Auch Tabor nicht.«
»Aber wir«, warf Jaelle ein.
Und sie berichtete ihrerseits von den Geschehnissen, als Leila bei der Anrufung der Wilden Jagd voller Angst aufgeschrien hatte. Durch ihre Verbindung hatten alle Priesterinnen im Heiligtum die Stimme der grünen Ceinwen gehört, als sie Owein ihrem Willen unterwarf und ihn vom Töten abhielt.
Nun schwieg Kim. Sie nahm in sich auf, was sie hörte. Nur eines musste noch gesagt werden, und das tat sie schließlich: »Ich fürchte, dass noch etwas anderes geschehen ist.«
»Wer ist heute morgen hier gewesen?« fragte Jaelle mit entnervender Vorahnung.
Es war schön, wo sie saßen. Die Sommerluft war mild und rein, der Himmel und der See strahlten in leuchtendem Blau. Ringsum Vögel, Blumen, und vom Wasser kam eine sanfte Brise. In ihrer Hand hielt sie ein Glas mit kühlem Wein.
»Darien«, antwortete sie, »ich habe ihm Lisens Reif gegeben. Ysanne hatte ihn hier verborgen. Als er ihn aufsetzte, ging das Licht aus, und er stahl Colans Dolch Lökdal, den sie ebenfalls im Cottage aufbewahrt hatte. Dann ist er weggegangen, er sagte, er ginge zu seinem Vater.«
Sie wusste, es war nicht schön, es so ungeschminkt zu erzählen. Auf ihre Worte hin war Jaelles Gesicht knochenweiß geworden, aber Kim wusste, dass es ohnehin keine Rolle spielte, wie sie es ihnen mitteilte. Wie konnte man auch die Wirkung, die der Schrecken dieses Morgens gehabt hatte, abschwächen? Welchen Schutz konnte es geben?
Vom See her wehte noch immer die Brise. Blumen, grünes Gras, der See, die Sommersonne. Und Angst, dicht gewobene Angst, an der Wurzel aller Dinge, eine Drohung, dass dies alles verschwinden würde: über einen Abgrund auf einem Weg des Schattens nach Norden, ins Zentrum des Bösen.
»Wer«, fragte Sharra von Cathal, »ist Darien? Und wer ist sein Vater?«
Erstaunlicherweise hatte Sharra vergessen. Paul und Dave wussten von Jennifers Kind, Jaelle auch und die Mormae von Gwen Ystrat. Natürlich auch Vae und Finn, obwohl dieser sie nun verlassen hatte. Wahrscheinlich wusste auch Leila davon, die alles zu wissen schien, was irgendwie mit Finn zu tun hatte. Aber sonst war niemand darüber unterrichtet. Weder Loren noch Aileron, Arthur oder Ivor oder selbst Gereint. Sie blickte auf Jaelle und fing deren Blick auf, der ebenso unsicher und angstvoll war. Dann nickte sie, und einen Augenblick später nickte auch die Hohepriesterin. Und so erzählten sie am Seeufer Sharra den ganzen Hergang.
Kim berichtete von der Vergewaltigung und von der Frühgeburt, von Vae und Finn, Jaelle teilte ihnen beiden Pauls Geschichte mit: die Geschehnisse in der Lichtung beim Sommerbaum, und Kim erzählte von dem roten Aufflackern in Dariens Augen heute morgen sowie von der mühelosen Kraft, mit der er sie niedergeschlagen hatte. Als die Erzählung damit beendet war, stand Sharra von Cathal auf. Sie ging einige schnelle Schritte weg, blieb einen Augenblick lang stehen und schaute über das Wasser. Dann drehte sie sich wieder zu Kim und Jaelle um. Sie blickte auf die beiden nieder, sah die bleiche Furcht in ihren Gesichtern, und sie, Sharra, die sich seit ihren Kindertagen als Falke geträumt hatte, der allein dort oben flog, schrie laut aus: »Aber das ist schrecklich! Das arme Kind! Niemand sonst in irgendeiner Welt könnte so einsam sein.«
Ihre Stimme war weithin zu hören. Kim sah, wie die Soldaten aus der Ferne zu ihnen herüberblickten. Jaelle gab einen merkwürdigen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Keuchen und einem merkwürdigen Lachen lag. »Wirklich«, begann sie, »armes Kind? Ich glaube nicht, dass du ganz verstanden hast …«
»Nein«, unterbrach sie Kim und legte ihre Hand eilig auf Jaelles Arm. »Nein, warte, sie hat nicht unrecht.« Und noch als sie sprach, erlebte sie von neuem die Szene unter dem Cottage, sie beobachtete sie prüfend und versuchte, über das schreckerfüllte Bewusstsein von Maugrims Vaterschaft an diesem Kind hinauszublicken. Und als sie zurücksah und sich zu erinnern suchte, hörte sie wieder jenen Laut, der ihr entgangen war, als Lisens Licht verloschen war.
Und aus der Entfernung und geführt von Sharras Worten hörte Kim nun deutlich, was sie vorher überhört hatte: die
Weitere Kostenlose Bücher