Das Kind des Schattens
Einsamkeit, das schreckliche Gefühl der Ablehnung in jenem verstörten Schrei, der sich der Seele dieses Knaben entrang – und er war nur ein Knabe, davon mussten sie ausgehen – ein Knabe, der nichts und niemand hatte und dem keine Heimat beschieden war. Ein Kind, von dem sich das Licht selbst abgewendet hatte, als schrecke es vor ihm zurück und stoße ihn von sich.
Das hatte er tatsächlich gesagt, jetzt konnte sie sich erinnern, er hatte es gesagt, aber in ihrer Angst hatte sie nur die schreckliche Drohung, die dann folgte, aufgenommen, dass er mit Geschenken zu seinem Vater gehen wollte. Es waren Geschenke, mit denen er ihn milde stimmen, ihn voller Sehnsucht um eine Heimat anflehen wollte. Das erkannte sie jetzt.
Und sie kamen von der einsamsten Seele in den Welten des Webers, die es gab, von Darien auf dem Dunkelsten Weg.
Kim stand auf, Sharras Worte hatten schließlich alles für sie herauskristallisiert, und es war ihr das einzige eingefallen, was sie tun konnte. Es war winzig, verschwindend, eine verzweifelte Hoffnung, aber mehr hatten sie nicht. Zwar konnte es sich noch immer als wahr erweisen, dass die letzte Entscheidung auf dem Schlachtfeld fallen würde, aber Kim wusste, dass da zu viele andere Kräfte eine Rolle spielten, als dass man davon mit Sicherheit ausgehen konnte.
Und eine dieser Kräfte war sie selbst, eine weitere Kraft war dieser Knabe, den sie diesen Morgen gesehen hatte. Sie blickte zu den Soldaten hinüber und war einen Augenblick lang besorgt, aber nur kurz. Für vollkommene Geheimhaltung war es ohnehin zu spät, das Spiel war schon zu weit fortgeschritten, und zuviel hing davon ab, was nun folgen würde. Deshalb trat sie ein wenig nach vorn, wechselte vom steinigen Ufer zum Gras, das bis zum Eingangstor des Cottage verlief.
Dann erhob sie ihre Stimme und schrie: »Darien, ich weiß, du kannst mich hören! Bevor du dahin gehst, wohin du gehen wolltest, lass mich dir sagen: Deine Mutter steht jetzt auf einem Turm im Westen des Waldes von Pendaran.« Das war es. Das, und nur das war ihr geblieben, ein Informationsfetzen, den sie dem Wind übergab.
Ein großes Schweigen folgte auf ihre Rufe, durch den Wellenschlag am Ufer wurde es nicht gebrochen, sondern noch vertieft und verstärkt. Sie kam sich ein wenig lächerlich vor, so musste es ja den Soldaten erscheinen, aber Würde bedeutete ihr jetzt weniger als jemals sonst. Es ging nur darum, ihn zu erreichen, ihre Stimme mit ganzem Herzen hinauszuschleudern, und ihr Herz war vielleicht das einzige, was zu ihm durchdringen würde.
Aber nur das Schweigen antwortete ihr. Von den Bäumen im Osten des Cottage erhob sich eine weiße Eule, die sie durch ihren Schrei aus ihrem Tagschlaf erweckt hatte, kurz in die Luft und ließ sich dann wieder tiefer im Wald nieder. Trotzdem war sie sich ziemlich sicher – und inzwischen vertraute sie ihrer Intuition, die lange Zeit ihre einzige Führung gewesen war –, dass Danen noch immer in ihrer Nähe weilte. Dieser Ort zog ihn an und hielt ihn fest, und wenn er in der Nähe war, konnte er sie hören. Und wenn er sie hörte?
Sie wusste nicht, was er tun würde, sie wusste nur, dass nur Jennifer in ihrem Turm, und niemand sonst, ihn von dieser Reise zu seinem Vater abhalten könne. Jennifer, die ihren ganzen Gram und ihre ganze Würde trug und von Anfang an darauf bestanden hatte, dass ihr Kind unberechenbar sein sollte. Aber so konnte man ihn nicht mehr lassen, sagte sich Kim. Jennifer würde das doch sicher erkennen? Er war auf seinem Weg nach Starkadh, einsam und ohne Trost. Seine Mutter würde Kim dieses Eingreifen doch sicher verzeihen?
Kim drehte sich zu den anderen zurück. Auch Jaelle war aufgestanden, aufrecht, beherrscht, sie war sich vollkommen bewusst, was gerade geschehen war. Sie fragte: »Sollten wir sie warnen? Was wird sie tun, wenn er zu ihr geht?«
Kim fühlte sich auf einmal müde und zerbrechlich. Sie erwiderte: »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob er dort hingehen wird. Vielleicht. Ich glaube allerdings, dass Sharra recht hat. Er sucht nach einem Platz. Ob wir sie warnen sollten … Ich wüsste nicht, wie …«
Jaelle holte vorsichtig Atem. »Ich kann uns dorthin bringen.« »Wie?« fragte Sharra. »Wie kannst du das tun?«
»Mit Blut und dem Avarlith«, antwortete die Hohepriesterin der Dana in ruhigem und gleichgültigem Ton. »Von beidem ist eine größere Menge nötig.«
Kim sah sie forschend an. »Aber solltest du es überhaupt tun? Solltest du nicht besser im
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