Das Kind des Schattens
Tempel bleiben?«
Jaelle schüttelte den Kopf. »Diese letzten paar Tage habe ich mich dort nicht wohlgefühlt, was vorher niemals der Fall war. Ich glaube, die Göttin hat mich genau darauf vorbereitet.«
Kim sah hinab auf den Baelrath auf ihrem Finger, er flackerte still und kraftlos. Von dort kam also keine Hilfe. Manchmal hasste sie den Ring mit einer erschreckenden Intensität. Sie blickte zu den anderen Frauen auf.
»Sie hat recht«, pflichtete Sharra ruhig bei. »Jennifer muss gewarnt werden, falls er zu ihr geht.«
»Oder wenigstens später getröstet werden«, ergänzte Jaelle überraschend. »Seherin, entscheide dich schnell! Wir werden zum Tempel zurückreiten müssen, und Zeit ist das einzige, was wir nicht haben.«
»Es gibt viele Dinge, die wir nicht haben«, verbesserte sie Kim abwesend, aber sie nickte, noch während sie sprach.
Sie hatten ein zusätzliches Pferd für sie mitgebracht. Später sprach Jaelle an diesem Nachmittag unter der Kuppel des Tempels vor dem Altar mit der Axt Worte der Kraft und Beschwörung. Sie zapfte sich selbst Blut ab – und tatsächlich eine große Menge, wie sie angekündigt hatte –, dann trat sie mit den Mormae in Gwen Ystrat in Verbindung und reichte zusammen mit dem inneren Kreis der Dana-Priesterinnen zur Erdwurzel hinab, um von der Mutter genügend Kraft zu beziehen, um die drei Frauen zu einem steinigen Meeresufer bringen zu lassen.
Im Vergleich zu allen Dingen dieser Art dauerte es nicht lange, aber trotzdem war das Unwetter, das sich zusammenbraute, schon fast über ihnen, als sie dort anlangten, und der Wind und die Wellen waren wild.
Selbst in der Eulengestalt passte der Reif um seinen Kopf. Allerdings musste er den Dolch in seinem Schnabel tragen, und das ermüdete ihn. Er ließ ihn am Fuße eines Baumes ins Gras fallen. Niemand würde ihn wegnehmen. All die anderen Tiere im Wald hatten jetzt Angst vor ihm. Er konnte mit seinen Augen töten.
Dies hatte er gerade erst vor zwei Nächten erfahren. Eine Feldmaus, die er jagte, wäre ihm fast unter dem verfaulten Holz einer Scheune entkommen. Er war hungrig und wütend gewesen. Seine Augen hatten aufgeblitzt – er wusste immer, wann das geschah, auch wenn er sie nie vollständig unter Kontrolle hatte – und die Maus war zusammengeschmort und verendet.
In jener Nacht hatte er das noch drei weitere Male getan, obwohl er nicht mehr hungrig war. Er empfand ein gewisses Vergnügen in der Macht, aber auch eine Art von Zwang. Das letztere verstand er nicht wirklich, er nahm an, dass es von seinem Vater kam.
Spät in der nächsten Nacht war er in seiner eigenen Gestalt bzw. in der Gestalt, die er vor einer Woche für sich angenommen hatte, eingeschlafen, und als er bereits hinüberdriftete, kehrte eine Erinnerung wie ein Traum zu ihm zurück. Er dachte an den vergangenen Winter und an die Stimmen im Sturm, die ihn jede Nacht gerufen hatten. Damals hatte er denselben Zwang empfunden, erinnerte er sich. Es war ein Verlangen, in die Kälte hinauszugehen und im Schneetreiben mit den wilden Stimmen zu spielen.
Jetzt hörte er die Stimmen nicht mehr. Sie riefen ihn nicht. Er überlegte, und es war ein schwieriger Gedanke, ob sie vielleicht deshalb damit aufgehört hatten, weil er bereits zu ihnen gekommen war. Noch vor so kurzer Zeit hatte er als kleiner Junge versucht, mit ihnen zu kämpfen, wenn sie ihn riefen. Finn hatte ihm geholfen. Er schritt immer über den kalten Boden des Cottage und kroch zusammen mit Finn ins Bett, und dann war alles gut. Aber jetzt war niemand mehr da, der alles gut machen konnte. Er konnte mit seinen Augen töten, und Finn war fort.
Mit diesem Gedanken war er in der Höhle hoch oben im Norden des Cottage eingeschlafen. Und am Morgen hatte er die weißhaarige Frau gesehen, wie sie den Weg hinunterging und dann am See stand. Als sie schließlich wieder hineingegangen war, war er ihr gefolgt, und sie hatte ihn gerufen, und er war die Treppe hinuntergegangen, deren Existenz ihm völlig unbekannt war.
Auch sie hatte Angst vor ihm gehabt, alle hatten Angst. Er konnte mit seinen Augen töten. Aber sie hatte ruhig mit ihm gesprochen und einmal auch gelächelt. Seit langer Zeit hatte ihm niemand mehr zugelächelt. Seit jener Zeit, als er die Lichtung am Sommerbaum in dieser neuen, älteren Gestalt, an die er sich nicht gewöhnen konnte, verlassen hatte.
Und sie kannte seine Mutter, seine wirkliche Mutter. Jene Frau, die Finns Erzählungen zufolge wie eine Königin war, die ihn
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