Das Kind des Schattens
hätte sein können, und nicht eine lebende Frau, die am äußersten Rande des Landes auf die Heimkehr dieses Schiffes wartete. Nur ihre Augen spähten unablässig über die mit weißer Gischt bedeckten Wellen hin. Sie wusste, dass sie jetzt weit im Norden von Taerlindel waren, und irgendwie kam es ihr merkwürdig vor. Aber hier hatte Lisen auf die Rückkehr eines Schiffes aus Cader Sedat gewartet, und tief in sich empfand Jennifer ein sicheres Bewusstsein davon, dass sie genau hier sein musste. Und eingebettet in diese Sicherheit wuchs in ihr eine Vorahnung … wie Unkraut in einem Garten. Der Wind wehte aus Südwesten, und seit dem Morgen und während des ganzen frühen Nachmittages war er immer stärker geworden. Ohne ihren Blick vom Meer abzuwenden, trat sie ein wenig von dem Geländer zurück und setzte sich in einen Stuhl, den sie für sie herausgestellt hatten. Sie ließ ihre Finger über das polierte Holz gleiten. Brendel hatte ihr erzählt, dass er, lang bevor der Anor erbaut wurde, bereits von Handwerkern aus der Brain Mark in Daniloth geschaffen worden war.
Mit ihr waren Brendel und Flidais hier zugegen, vertraute Geister, die ihr immer nahe waren und nur sprachen, wenn sie zu ihnen sprach. Jener Teil in ihr, der noch immer Jennifer Lowell war, dem es Vergnügen bereitet hatte, zu reiten und die Zimmergenossin zu necken, der Kevin Laine geliebt hatte, weil er so geistreich und auch so zärtlich war, dieser Teil rebellierte nun gegen diese gewichtige Erhabenheit. Aber vor einem Jahr war sie nach dem Reiten entführt worden, und Kim war jetzt weißhaarig und eine Seherin, die ihre Bürde zu tragen hatte, und Kevin war tot.
Und sie selbst war Guinevere, und Arthur war hier, er war gerufen worden, um gegen die Finsternis zu kämpfen, er war alles, was er immer schon gewesen war. Er hatte die Mauern, die sie seit Starkadh um sich selbst errichtet hatte, durchbrochen, an einem strahlenden Nachmittag hatte er sie befreit und war dann zu einem Ort des Todes weggesegelt.
Zuviel wusste sie über sein Schicksal und ihre eigene Rolle darin, als dass sie jemals wirklich wieder vergnügt hätte sein können. Sie war die Herrin der Trauer, das Werkzeug der Sühne, und allem Anschein nach konnte sie weder an dem einen noch an dem anderen viel verändern. Ihre Vorahnung wurde dichter, und das Schweigen begann sie zu bedrücken. Sie wandte sich an Flidais. Währenddessen flog ihr Kind gerade über den Wyth Llewen, jenen Fluss im Herzen des Waldes, um zu ihr zu gelangen.
»Magst du mir eine Geschichte erzählen«, bat sie, »während ich weiter Ausschau halte?«
Er, den sie an Arthurs Hof als Taliesin gekannt hatte und der nun in seiner wirklichen, älteren Gestalt neben ihr war, nahm eine gebogene Pfeife aus dem Mund, blies einen Rauchring in den Wind und lächelte.
»Welche Geschichte?« fragte er. »Was wollt Ihr hören, Herrin?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nichts denken. »Irgendeine.« Sie zuckte mit den Schultern und fuhr dann nach einer Pause fort: »Erzähl mir über die Wilde Jagd. Kim und Dave haben sie freigesetzt, soviel ich weiß. Aber wie wurde sie wieder gebannt? Wer ist es gewesen, Flidais?«
Er lächelte von neuem, und in seiner Stimme klang beträchtlicher Stolz. »Alles, wonach du mich fragst, werde ich dir erzählen. Und ich bezweifle, dass es jetzt, wo die Paraiko tot sind und in Kath Meigol umgehen, irgend jemanden in Fionavar gibt, der die Geschichte richtig weitergeben kann.«
Sie warf ihm einen ironischen Seitenblick zu. »Du hast immer alle Geschichten gewusst, nicht? Alle hast du gekannt, du eitles Kind.«
»Ich kenne die Geschichten und die Antworten auf alle Rätsel aus allen Welten außer …« Und nun brach er unvermittelt ab.
Brendel, der mit Interesse zusah, beobachtete, wie der Andain vom Wald ganz überraschend tiefrot anlief. Und als er dann weitersprach, klang er ganz verändert, und Jennifer drehte sich zurück zum Meer. Wie zuvor war sie Galionsfigur, aber sie hörte und beobachtete.
»Vor sehr langer Zeit habe ich das folgende von Ceinwen und Cernan erfahren«, hub Flidais wieder an, und seine tiefe Stimme drang durch das Brausen des Windes. »Als diese Welt, die erste der Welten des Webers, in die Zeit gesponnen wurde, gab es in Fionavar noch nicht einmal die Andain. Auf dem Webstuhl waren weder die Lios Alfar noch die Zwerge, noch die großen Männer von jenseits des Meeres, noch jene aus dem Osten der Berge oder den sonnenverbrannten Gegenden im Süden von
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