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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Cathal. Es gab nur die Götter und Göttinnen, die aus den gnadenvollen Händen des Webers ihre Namen und Kräfte empfingen. In den Wäldern lebten Tiere, aber die Wälder waren damals sehr wüst; in den Seen und Flüssen und im weiten Meer tummelten sich die Fische, und im noch weiteren Himmel flogen Vögel. Aber im Himmel raste auch die Wilde Jagd und in den Wäldern, den Tälern, über die Flüsse, die Berghänge hinauf gingen in den jungen Jahren der Welt die Paraiko und benannten alles, was sie sahen. Am Tag gingen die Paraiko umher, und die Wilde Jagd ruhte, aber nachts, wenn der Mond aufging, stiegen Owein, die sieben Könige und das Kind, das Iselen, das fahlste Schattenpferd ritt, in den gestirnten Himmel auf, und sie jagten die Tiere des Waldes und der offenen Steppe bis zur Dämmerung, sie erfüllten die Nacht mit der schrecklichen, wilden Schönheit ihrer Schreie und ihrer Jagdhörner.«
    »Warum?« konnte Brendel sich nicht enthalten zu fragen. »Weißt du warum, Waldgeist? Weißt du, warum der Weber ihr Töten in das Gewirk eingesponnen hat?«
    »Wer könnte schon das Webmuster kennen?« entgegnete Flidais nüchtern. »Soviel allerdings habe ich von Cernan und den Tieren erfahren: Die Jagd kam ins Gewirk, um im wahrsten Sinne wild zu sein, um für die Freiheit der Kinder, die danach kamen, einen unkontrollierten Faden einzuspinnen. Auf diese Weise hat der Weber sich die Beschränkung auferlegt, dass nicht einmal er selbst, der am Webstuhl der Welten webt, die zukünftigen Geschehnisse genau festlegen und gestalten kann. Wir, die wir später gekommen sind: Die Andain, welche die Kinder der Götter sind, die Lios Alfar, die Zwerge und alle Menschenrassen, wir haben deshalb die Wahl und eine gewisse Freiheit, unser eigenes Schicksal zu gestalten, weil jener wilde Faden von Owein und der Jagd immer wieder regellos und unvorhergesehen über den Webstuhl läuft. Vor langer Zeit hat nun Cernan mir eines Nachts verraten, dass sie deshalb wild sind, um den wohlbemessenen Plan des Webers zu durchkreuzen, um offen zu sein für den Zufall, damit auch wir es sein können.«
    Er unterbrach sich, weil Guineveres grüne Augen sich vom Meer abgewandt hatten und auf ihn blickten, und in diesem Blick lag etwas, das ihn schweigen machte.
    »Das also hat Cernan gesagt?« fragte sie. »Unberechenbar?«
    Er dachte mit Sorgfalt zurück, denn ihr Blick verlangte danach, und es war ja vor langer Zeit gewesen. »Ja, das hat er gesagt«, wiederholte er schließlich. Er verstand, dass es wichtig war, wusste aber nicht, warum. »Genauso hat er sich ausgedrückt, Herrin. Der Weber hat die Wilde Jagd ins Gewirk gewoben und sie auf dem Webstuhl freigelassen, damit auch wir durch sie unsere Freiheit haben. Das Gute und das Böse, Licht und Finsternis befinden sich in den Welten des Gewebes, weil Owein und die Könige im Gefolge des Kindes, das auf Iselen reitet, über den Himmel ziehen.«
    Sie hatte sich vollständig vom Meer abgekehrt und stand ihm nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er konnte nicht in ihren Augen lesen, er hatte es noch nie vermocht. Sie folgerte: »Und so konnte durch die Wilde Jagd auch Rakoth entstehen.«
    Das war keine Frage. Ihr Verständnis war bis zum tiefsten, bittersten Teil der Geschichte durchgedrungen. Indem er wiedergab, was Cernan und Ceinwen ihm gesagt hatten, gab er ihr die einzig mögliche Antwort: »Er ist der Preis, den wir zahlen.«
    Nach einer Pause und wegen des Windes etwas lauter fügte er hinzu: »Er ist nicht im Gewirk. Wegen der Unberechenbarkeit der Wilden Jagd war auch der Webstuhl selbst nicht mehr geheiligt, er war nicht mehr intakt. So konnte Maugrim von draußen hereinkommen, er kam von außerhalb der Zeit und der Wände der Nacht, an die wir alle, sogar die Götter, gebunden sind, er betrat Fionavar und konnte so in alle Welten gelangen. Er ist hier, aber er gehört nicht zum Gewebe. Er hat nie irgend etwas getan, das ihn daran binden würde, und deshalb kann er auch nicht sterben, selbst wenn sich das ganze Gewebe auflöst und all unsere Fäden verloren gehen.«
    Was Flidais zuletzt geäußert hatte, war auch Brendel bekannt, wie es aber dazu gekommen war, hatte er niemals erfahren. Schmerzlich blickte er auf die Frau, die neben ihnen saß, und als er sie ansah, las er in ihr einen Gedanken. Er war nicht klüger als Flidais und kannte sie noch nicht einmal sehr lange, aber seit jener Nacht, als sie aus seiner Obhut entführt worden war, hatte er seine Seele in ihren Dienst

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