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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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unterging und der Fluss wieder rein und klar ins Meer strömte, war er einen ganzen Tag lang ohne Pause gelaufen und näherte sich bereits dem Ostrand des Waldes. In diesem Augenblick hatte Pendaran ihn wahrgenommen, hatte bemerkt, was er getan hatte, aber die mächtigsten Kräfte des Waldes waren am Meer versammelt, und es gab, so quälend das war, wenig, was getan werden konnte. Sie veränderten die Waldwege, ließen die Bäume zusammentreten und sich drohend um den flüchtenden Mann schließen, aber er war der Ebene schon zu nah, er konnte im Licht der untergehenden Sonne das hohe Gras sehen, sein Wille und sein Mut waren sehr stark, stärker als die eines gewöhnlichen Diebes, und obwohl sie ihn verletzten, wirklich schwer verletzten, bahnte er sich seinen Weg aus dem Wald und fort nach Süden, und in seinen Händen hielt er einen glänzenden Gegenstand, den nur Lisen jemals getragen hatte. So bemerkte Pendaran nun mit Frohlocken, mit einer wilden, umfassenden Freude, dass das Diadem nach Hause zurückgekehrt war. Es war nach Hause gekommen und musste doch Schmerz erleiden, so flüsterten sich die Geister zu. Es musste Qualen leiden, denn sein Licht war auf der Stirn jenes Jungen ausgegangen, der einen Baum versengt hatte. Bevor sie ihn in seinen Tod entlassen würden, würde er wahnsinnig werden, würde er geschunden werden, in seinem Geist und Körper zugleich. Das schworen sie sich gegenseitig: Die Baumnymphe schwor es den Blättern der fühlenden Bäume, die Blätter den schweigenden und singenden Kräften, die dunklen, formlosen Dinge der Angst den alten, unbeweglichen, tiefwurzelnden Kräften, die einstmals Bäume gewesen waren und jetzt mehr als das, und zudem innigst erfahren in Hass.
    Einen Augenblick lang verstummte das Flüstern. Und in diesem Augenblick hörten sie Cernan, ihren Herrn. Sie hörten ihn laut sagen, dass es schon längst an der Zeit sei, dass dieser Eindringling sterben müsse, und sie lobpriesen ihn für diese Worte. Niemand würde sie aufhalten können, keines Gottes Stimme würde sie vom loten zurückrufen.
    Das Opfer wurde zum Hain geleitet. Geschickt wurde er geführt, die Waldwege waren glatt und eben für seinen Schritt gemacht, und während er noch ging, wurde sein Verhängnis beschlossen, und es wurde entschieden, wer es vollziehen würde. Alle Kräfte des Waldes waren sich einig: Wie bitter dieses Sakrileg auch sein mochte, wie scharf sie auch das Verlangen zu töten in sich fühlten, so würden sie dennoch nicht selbst gegen jemand vorgehen, der Lisens Diadem um sein Haupt trug.
    Aber es gab eine weitere Kraft, und das war die mächtigste von allen. Es war eine Kraft der Erde, nicht des Waldes, sie war nicht durch den Kummer und die Beschränkungen des Waldes gebunden. Noch während Darien widerstandslos zum Heiligen Hain geführt wurde, schickten die Geister von Pendaran ihren Ruf zu dem Wächter hinab, der unter diesem Platz schlief. Sie weckten den Ältesten.
     
    Es war sehr dunkel im Wald, aber selbst wenn er nicht in seiner Eulengestalt war, konnte er nachts sehr gut sehen. In gewisser Weise war die Dunkelheit für ihn leichter zu ertragen, aber das war nur eine weitere Quelle des Unbehagens.
    Diese Affinität erinnerte ihn an die Stimmen der Nacht, die ihn vom Winter seiner Kindheit her riefen und von denen er sich angezogen fühlte.
    Und das rief Erinnerungen an Finn in ihm wach, der ihn zurückgehalten und ihm befohlen hatte, die Finsternis zu hassen, ihn dann aber allein gelassen hatte. Er erinnerte sich an den Tag und würde sich immer an diesen Tag erinnern: den Tag, an dem er zum ersten Mal betrogen wurde. Er hatte eine Blume in den Schnee gezeichnet und sie mit der Kraft seiner Augen gefärbt.
    Im Hain war es ganz still. Jetzt, da er hier war, hatte sich das Wispern der Blätter zu einem sanften Rauschen der Nacht abgeschwächt. Es lag ein Geruch in der Luft, den er nicht kannte. Das Gras der Lichtung unter seinen Füßen war gleichmäßig glatt und weich. Den Mond konnte er nicht sehen. Über ihm aber schienen die Sterne aus dem hellen Himmelskreis, der durch die aufragenden Bäume eingerahmt wurde, zu ihm hernieder.
    Sie hassten ihn. Bäume, Blätter, das weiche Gras, die Geister hinter den Baumstümpfen, die Baumnymphe, die durch die Blätter spähte, sie alle hassten ihn, er wusste es. Er hätte verängstigt sein müssen, das gab ein Teil in ihm zu. Er hätte seine eigene Kraft einsetzen müssen, um sich aus diesem Ort zu befreien, um sie alle für ihren Hass

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