Das Kind des Schattens
wohin auch immer sie ihn brachten, was auch immer dort auf ihn wartete. Er spürte ihre Wut und ihre Vorfreude auf Rache, ohne darauf zu reagieren. Er wanderte, kümmerte sich um nichts und dachte nur an das kalte, gebieterische Gesicht seiner Mutter und ihre Worte: Was tust du hier? Was willst du, Darien? Was wollte er, was durfte er wollen, worauf durfte er hoffen, wovon träumen, was ersehnen? Vor weniger als einem Jahr war er überhaupt erst geboren worden. Wie konnte er wissen, was er wollte? Er wusste nur, dass seine Augen rot werden konnten, wie die seines Vaters, und wenn das geschah, brannten die Bäume, und alle wandten sich von ihm ab. Selbst das Licht wandte sich ab. Es war wunderschön, heiter und traurig gewesen, und die Seherin hatte es auf seine Stirn gesetzt, aber es war ausgegangen, sobald der Verschluss einschnappte.
Er wanderte und weinte nicht. Seine Augen waren blau. Der Halbmond stieg auf. Bald würde er durch die Zwischenräume in den Bäumen hindurchscheinen. Der Wald wisperte triumphierend, in den Blättern raschelte die Bösartigkeit. Ohne Widerstand zu leisten, wurde er mit Lisens Reif auf seiner Stirn zum Heiligen Hain des Pendaran-Waldes geführt, um dort erschlagen zu werden.
Zahllos waren die Jahre, in denen der Hain tief in seiner Kraft versunken war. Es gab auch keinen anderen Platz in irgendeiner anderen Welt, dessen Wurzeln so tief in das Gewirk eingewoben waren. Gegen das Alter dieses Ortes war selbst Mörnirs Anspruch auf den Sommerbaum im Götterwald des Großkönigtums nur vor einem Augenblick, einem Zwinkern der Zeit erhoben worden … das waren die Tage, als Iorweth von jenseits des weiten Meeres gerufen worden war. Aber Tausende und Abertausende von Jahren hatte der Wald von Pendaran schon die Sommer und Winter in Fionavar vergehen sehen, und in den immer wiederkehrenden Zyklen der Jahreszeiten war dieser Hain und die darin liegende Lichtung das Herz des Waldes gewesen. Hier war Magie zugegen, und uralte Kräfte schlummerten unter dem Waldboden.
Vor mehr als tausend Jahren (einem Augenzwinkern, nicht mehr) war hier Lisen in der verzückten schweigenden Anwesenheit der Kräfte des Waldes und der glanzvollen Gesellschaft der Göttinnen geboren worden, und mit ihnen hatte sie seit Anbeginn der Tage ihre wunderbare Schönheit geteilt. Hierher war auch Amairgen Weißast gekommen, der erste Sterbliche, das erste Kind des Webers, das nicht aus dem Wald geboren war. Er hatte sich nachts in diesen Hain gewagt, um nach Macht für Männer zu suchen, die ihre Kraft nicht aus der Quelle der Blutmagie der Priesterinnen ziehen wollten. Und diese Macht hatte er hier gefunden, mehr noch: Als Lisen wild und herrlich zu der entweihten Lichtung, dem Ort ihrer Geburt zurückkehrte, um ihn am Morgen zu erschlagen, hatte sie sich statt dessen in ihn verliebt und deshalb den Wald verlassen.
Danach hatte sich viel verändert. Für die Mächte des Hains und ganz Pendaran lief die Zeit bis zum Augenblick ihres Todes, als sie vom Balkon des Anor sprang, leicht und schnell. Seit jenem Tag bewegte sie sich langsamer, als ob sie von einem schweren Gewicht herabgezogen würde.
Seit damals, seit jenen vom Krieg zerrissenen Tagen, als Rakoth Maugrim das erste Mal im Gewebe erschien, war nur ein einziger weiterer Sterblicher jemals an diesen Platz gekommen, und auch er war ein Magier, ein Anhänger von Amairgen, und er war ein Dieb. Mit List und Tücke hatte der Magier Raederth genau aus ihrer Überlieferung übernommen, wann es sicher sein würde, nach Pendaran hineinzugehen und jenes Ding an sich zu nehmen, nach dem er suchte.
Jedes Jahr gab es einen, und nur einen Tag, an dem der Wald verletzlich war, an dem er trauerte und sich nicht schützen konnte. Wenn die Jahreszeiten den Tag von Lisens Todessprung erreichten, dann färbte sich der Fluss, der an dem Anor vorbei ins mörderische Meer floss, rot von der Erinnerung an ihr Blut, und alle Geister des Waldes, die dazu imstande waren, versammelten sich am Fuße des Berges, um zu trauern, und all jene, die nicht reisen konnten, sandten ihr Bewusstsein zu dem Ort, um den Fluss und den Anor durch die Augen der dort Versammelten zu sehen.
Und in einem Jahr kam Raederth am Morgen dieses Tages. Ohne seine Quelle – denn er wollte keine Aura der Macht um sich verbreiten – hatte er den Heiligen Hain betreten, war in der Lichtung an Lisens Geburtsplatz niedergekniet und hatte ihren Reif, der glänzend auf dem Gras lag, an sich genommen.
Als die Sonne
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