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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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vertraute sie ihm.
    In der Dunkelheit sah er die Blumen auf dem Hügel, wo Lisen geboren worden war, und er nahm sie deutlich wahr mit der nächtlichen Sehfähigkeit seines Vaters, und gleichzeitig dachte er an seine Mutter.
    Aus irgendeinem Grund erinnerte er sich dann an Vae und Shahar, die erste Mutter und den ersten Vater, die er gekannt hatte. Er dachte über seine beiden Väter nach: Der eine war ein hilfloser geringer Soldat im Heer von Brennin, der den unpersönlichen Befehlen des Großkönigs gehorchen musste, der in der Kälte des Winters nicht bei seiner Frau und seinen Söhnen bleiben konnte, um sie zu wärmen … und der andere war ein Gott, der stärkste Gott, der Schöpfer des Winters und des Krieges. Dass er, Darien, so gefürchtet wurde, lag daran, dass er sein Sohn war.
    Zwischen ihnen sollte er wählen.
    Von dieser einen Seite betrachtet, gab es da überhaupt keine Wahl. Seine Sehfähigkeit im Dunkeln, die Angst, die er erweckte, das Sterben des Lichtes auf seiner Stirn, alles sprach für die Finsternis. Es war, als hätte die Wahl bereits stattgefunden. Andererseits …
    Und diesen Gedanken führte er nie zu Ende.
    »Es würde mir gefallen, wenn du um dein Leben flehen würdest.«
    Wenn die Felsen der Erdkruste sprechen könnten, dann müsste es so klingen. Diese Worte glichen einem Rollen und Rutschen gigantischer Steine, die in Bewegung gerieten, es war ein Vorspiel zu niederbrechenden Lawinen und Erdbeben.
    Darien drehte sich auf dem Absatz um. Eine Gestalt, die dunkler war als die Dunkelheit in der Lichtung, im Boden ein riesiges gezacktes und unregelmäßiges Loch neben dem Wesen, das mit der Stimme der Erde gesprochen hatte. Trotz all seiner Resignation, die er noch Augenblicke zuvor empfunden hatte, stieg in Darien eine urtümliche instinktive Angst hoch. Er fühlte, wie seine Augen rot explodierten. Er hob seine Hände, spreizte die Finger, richtete sie …
    Und nichts geschah.
    Ein tiefes schwarzes Lachen erklang, wie Findlinge, die lange Zeit ruhten und sich jetzt bewegten. »Nicht hier«, verbat sich die Gestalt, »nicht in diesem Hain und nicht so schutzlos, wie du jetzt bist. Ich kenne deinen Namen und den Namen deines Vaters. Es ist klar, wozu du werden kannst, es würde sogar genügen, mich ein wenig aus der Ruhe zu bringen, wenn wir uns lange Zeit nach dieser Nacht getroffen hätten. Aber heute bist du nichts an diesem Ort. Du reichst nicht annähernd tief genug. Es würde mir gefallen«, wiederholte die Gestalt, »dich flehen zu hören.«
    Darien ließ seine Arme sinken. Er fühlte, wie seine Augen wieder blau wurden, und dieses Blau hatte er weder von seinem Vater noch von seiner Mutter, es war sein eigenes Blau, vielleicht das einzige, was sein eigen war. Er schwieg, und in diesem Schweigen betrachtete er das Wesen, das unter dem Halbmond, der sich jetzt über die östlichen Bäume erhob und bleich herniederschien, hervorgekommen war.
    Dieses Wesen hatte keine feste Form oder Farbe. Noch während er es beobachtete, oszillierte es unaufhörlich durch alle möglichen amorphen Formen. Es hatte vier Arme, dann wieder drei, dann gar keinen. Es hatte einen Menschenkopf, dann eine hässliche monströse Form, die von Schnecken und Maden bedeckt war, dann einen gesichtslosen Stein, von dem die Maden in das Gras und das klaffende Loch daneben fielen. Es war grau, fleckiggrau und schwarz, es war riesig. Aber in den verschwommenen Verwandlungen seiner Gestalt hatte es immer zwei Beine, und eines davon war, wie Darien sah, deformiert. In der einen Hand trug es einen Hammer, der die Farbe von grauschwarzem nassem Lehm hatte und fast ebenso groß wie Darien selbst war.
    Wieder sprach es inmitten des plötzlich vollkommenen, erschreckenden Schweigens des Waldes, und wieder fragte es: »Willst du nicht um dein Leben flehen, Reifträger? Gib mir eine Stimme die ich in meinen Schlaf unter dem Stein zurücktragen kann. Sie haben mich gebeten, dich am Leben zu lassen, Augenbrenner. Sie wollen dein Fleisch und deinen Geist schinden, wenn das Diadem von deiner Stirne verschwunden ist. Ich möchte dir eine leichtere schnellere Erlösung anbieten, wenn du nur darum bittest. Bitte du Entweiher des Heiligen Haines, nur bitte, etwas anderes kannst du nicht tun.«
    Das Gesicht war jetzt fast menschlich geworden, aber es wai riesig und grau, in und aus der Nase und dem Mund krochen Würmer. Seine Stimme war die verdichtete Stimme von Erde und Stein. Es sagte: »Es ist Nacht im Heiligen Hain, Sohn Maugrims.

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