Das Kind
hatte Mühe, die verzerrte Stimme zu verstehen, so laut, wie die Panik das Blut durch seine Gehörgänge peitschte.
»Ich soll Ihnen helfen?«, lachte der Erpresser leise. »Ausgerechnet ich?«
»Wenn Sie nicht wollen, dass ich mit der Polizei rede, sollten Sie mich jetzt besser hier rausholen«, zischte Stern wütend. »Gibt es vielleicht noch einen Hinterausgang?« »Nein. Und versuchen Sie es erst gar nicht über die Fenster. Die lassen sich nur kippen.«
»Also was dann?«
Engler musste genagelte Lederstiefel tragen, so wie das Parkett nun unter seinen Schritten ächzte. Er hatte offenbar den Empfang hinter sich gelassen und den Flur betreten. Stern
hörte dumpf eine Tür schlagen.
»Gehen Sie zur Zimmertür und stellen Sie sich direkt neben den Medikamentenschrank.«
Also gut.
Robert bemühte sich, keinen Laut zu erzeugen, während er durch das Zimmer huschte. Um ein Haar wäre er auf einem Aktenordner ausgerutscht, der zu Boden gefallen war. Er verlagerte im letzten Augenblick sein Gewicht und stieß dabei ausgerechnet an Tiefensees Körper. Der Haken an der Decke knirschte bedrohlich, als die Leiche wieder zu pendeln begann.
»Und jetzt?« Er hatte die Tür erreicht und stand fl ach atmend zwischen dem Rahmen und einem weißen Arztschrank mit eingelassenen Facettgläsern. »Öffnen Sie den Schrank.«
Stern tat, wie ihm befohlen.
Drei Zimmer weiter wurde eine weitere Klinke gedrückt. Engler ging also systematisch vor. Ein Praxisraum nach dem anderen. Auch diese Tür wurde enttäuscht wieder zugeschlagen.
»Sehen Sie die gebogene Verbandsschere im zweiten Fach von unten?«
»Ja.«
Stern griff nach dem funkelnden Stück Metall. Es lag kühl in seiner Hand.
»Gut. Nehmen Sie sie und warten Sie ab, bis Engler bei Ihnen ist.« Die Stimme fl üsterte jetzt ebenfalls. »Passen Sie den Moment ab, in dem er die Leiche sieht, damit Sie das Überraschungsmoment auf Ihrer Seite haben.« »Und was dann?«
»Dann rammen Sie ihm die Schere ins Herz.« »Sind Sie wahnsinnig?«
Das Metall in Sterns Händen brannte auf einmal wie Feuer. War das ein Traum oder Wirklichkeit? Stand er tatsächlich gerade mit einer Waffe in einem Raum, in dem eine Leiche von der Zimmerdecke baumelte, und unterhielt sich mit einem Psychopathen?
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
»Nein, aber ich werde doch keinen Menschen umbringen!« »Manchmal ist das die beste Lösung.«
Es knarrte wieder auf dem Flur. Engler nahm sich einen weiteren Praxisraum vor.
Die verzerrte Stimme lachte kalt.
»Na gut, ich seh schon. Dann muss ich Ihnen wohl etwas unter die Arme greifen.«
Stern spürte einen Luftzug auf seinem schweißnassen Gesicht, so als wäre irgendwo ein Fenster geöffnet worden. Engler konnte es nicht sein, denn der lief gerade wieder den Flur hoch. Noch zwei Schritte. Höchstens drei. Dann würde er um die Ecke biegen und die Holzsplitter auf dem Parkett bemerken. Er rechnete jeden Augenblick damit, die Schuhspitzen des Polizisten auf der Schwelle zu sehen. »Hallo?«, hörte er plötzlich jemanden rufen. Sein Herz verschluckte sich fast an dem Blut, das immer langsamer durch seinen Körper strömen wollte.
Das darf nicht wahr sein.
Die »Stimme«. Sie war die ganze Zeit hier gewesen. Nur einen Praxisraum weiter. Im Gegensatz zu Englers Schritten erzeugten die Gummisohlen des Killers kaum ein Geräusch auf dem Fußboden.
»Suchen Sie mich?«
Stern hielt den Atem an und verkrampfte sich so stark, dass es in seinen Ohren knackte. Plötzlich hörte er alles viel lauter um sich herum. Dennoch konnte er die neue Stimme kei nem ihm bekannten Gesicht zuordnen.
»Entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich bin gerade mitten in einem Experiment«, sagte der Mann, jetzt ohne künstliche Veränderung. Dennoch klang seine Stimme dumpf, so als würde der Mann durch ein Taschentuch sprechen. »Sind Sie Doktor Tiefensee?«, fragte der Kommissar misstrauisch auf dem Gang.
»Nein, der Doktor ist gerade kurz etwas essen. Aber halt, was sage ich. Sie haben Glück. Da kommt er ja.« »Wo?«, war das letzte Wort, das Stern von Engler mitbekam. Danach wurde ein kurzer, erstickter Aufschrei von einem elektrostatischen Knacken abgelöst. Es hörte sich nach einer durchbrennenden Glühbirne an, nur sehr viel lauter.
Elektroschocker, dachte Robert, und alles in ihm schrie da nach, zur Tür zu rennen, damit er sich ein Bild machen konnte von dem, was sich auf dem Flur gerade abspielte. Doch seine Angst war zu groß. Nicht vor Engler. Nicht vor seiner eigenen Verhaftung.
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