Das Kind
Erleichterung in Carinas Gesicht, die er ebenfalls spürte. Simon lächelte. Er hatte sich nur verschluckt.
Robert nutzte die Gelegenheit und zog ein etwas brüchiges Blatt Papier aus seiner Manteltasche. Wenn man bedachte, dass es länger als ein Jahrzehnt in den Händen eines Toten gelegen hatte, war es erstaunlich gut erhalten. »Simon, schau mal her. Erkennst du das hier?« Carina musste einen Schritt zur Seite gehen, damit sie keinen Schatten auf die Zeichnung warf.
»Das war ich nicht«, stellte Simon fest. Knack.
»Ich weiß. Aber dein Bild in der Klinik ist dem hier sehr ähnlich.«
»Ein bisschen.«
»Wann hast du es gemalt?«
Knack.
»Nach dem Aufwachen. Am Tag nach der Rückführung, ich hatte davon geträumt.«
»Aber warum?« Stern sah Carina an, doch die zuckte auch
nur mit den Achseln. »Warum diese Wiese?« »Das ist doch keine Wiese«, sagte Simon und musste wieder husten.
Er schloss die Augen, und jetzt war Stern sich sicher. Die staubige Kellerlampe hatte zu fl ackern begonnen und warf ihr schlieriges Licht auf Simons Erinnerungen. »Was ist es dann?«
Irgendwo schlug eine Tür, und ein junges Mädchen kicherte.
»Ein Friedhof«, sagte Simon.
Knack.
»Und wer liegt dort?«
Knack. Knack.
Stern spürte nur die Hand auf seiner Schulter, die sich durch seinen Mantel in sein Fleisch krallte, als wäre er ein Ladendieb, den es festzuhalten galt. Er war Carina dankbar für diesen Schmerz. Er lenkte ihn etwas von dem psychischen Grauen ab, das durch Simons Worte entstand, als er sagte: »Ich glaube, er heißt Lucas. Ich kann euch zu ihm bringen, wenn ihr wollt, aber …«
»Aber was?«
»In dem Grab liegt nur sein Kopf.«
16.
E r war so müde. Erst die vielen Fragen, dann die einschlä fernden Geräusche in der Röhre, schließlich die frische Luft und am Ende das Schummerlicht im Nachttierhaus. Er wollte ja wach bleiben und zuhören. Aber es fi el ihm von Minute zu Minute schwerer, zumal das Auto so gut roch und angenehm sanft vibrierte.
Simon lehnte seinen Kopf an Carinas weichen Oberarm und schloss die Augen. Ihr Magen grummelte, und er spürte, dass sie sich nicht wohl fühlte. Es ging ihr nicht mehr so gut, seit sie vorhin kurz in Roberts Armen gezittert hatte. Vielleicht konnte sie auch nur den dicken Fahrer nicht leiden, den sein Anwalt »Borchert« nannte und der beim Sprechen immer so merkwürdig schnaufte. Obwohl es sehr kühl draußen war, trug er lediglich ein dünnes T-Shirt mit halbmondförmigen Rändern unter den Achseln.
»War jemand von euch schon mal in Ferch?«, fragte Robert von vorne. Simon blinzelte, als er den Ortsnamen hörte, den er ihnen noch im Nachttierhaus mitgeteilt hatte. Eigentlich war er sich gar nicht mehr so sicher, ob der Friedhof wirklich genau dort lag. Im Moment war es nicht mehr als eine dumpfe Ahnung. Ferch. Die fünf Buchstaben standen wie funkelnde Ausrufezeichen vor seinen Augen, sobald er sie schloss.
»Ja, das liegt am Schwielowsee, direkt hinter Caputh.« »Woher weißt du denn das?«, fragte Stern argwöhnisch den Fahrer.
»Weil da in der Gegend die ›Titanic‹ steht. War früher mal meine größte Disco.«
Carina verlagerte neben ihm ihr Gewicht.
»Schaffen wir das denn bis sechzehn Uhr?« »Mein Navi sagt, wir sind in fünfundvierzig Minuten da. Wird knapp. Viel Zeit, uns umzuschauen, haben wir nicht.« Stern seufzte. Er klang jetzt lauter, so als hätte er sich nach hinten zu Carina umgedreht.
»Schläft der Junge?«
Simon fühlte, wie sie sich zu ihm hinabbeugte. Er wagte kaum zu atmen.
»Ja, glaub schon.«
»Gut, denn ich will dich etwas fragen. Aber bitte, gib mir eine ehrliche Antwort, ich hab nämlich das Gefühl, langsam den Verstand zu verlieren. Glaubst du wirklich an so was?« »Woran?«
»Seelenwanderung. Reinkarnation. Daran, dass wir schon einmal gelebt haben.«
»Also, ich …« Carina antwortete zögerlich, wie jemand, der zuerst die Reaktion seines Gesprächspartners abwarten will, bevor er sich endgültig festlegt.
»Ja, ich denke ja. Dafür sprechen schon die Berichte von Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten. Fast alle haben gespürt, wie sich ihre Seele aus ihrem Körper löste, bevor sie wiederbelebt wurden. Und nicht nur das, einige sagen sogar, sie hätten im Sterben schon gewusst, zu welchem neuen Körper ihre Seele wandern würde.«
»Das sind Legenden, aber keine handfesten Beweise.« »Aber die gibt es auch.«
»Welche?«, hörte er den Anwalt ungläubig fragen. »Kennst du den Fall des sechsjährigen Taranjit Sing?«
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