Das Kind
Borchert schien Carina ihm sofort zu glauben. Stern konnte förmlich spüren, wie sie sich der Möglichkeit von Felix’ Wiedergeburt öffnete, viel schneller, als er selbst dazu bereit gewesen war.
Doch als er ihr von Tiefensees grausamem Todeskampf erzählte, begriff sie die Gefahr, in der sie alle steckten. Carina hatte zwar gerade noch die Fassung bewahrt, als sie sich aus seinen Armen wand. Doch er wusste, wie es wirklich in ihr aussah. Und dass es ein Fehler gewesen wäre, ihr hinterherzulaufen, wenn sie jetzt für sich sein wollte. »Ja, sie wird bald wieder bei uns sein«, murmelte Robert, und sie gingen ein Gehege weiter.
»Gut«, antwortete Simon. »Picasso hat nämlich gesagt, wir müssen bis vier Uhr zurück sein. Sonst will er uns verpetzen.«
Picasso? Stern brauchte eine Sekunde, bis das Bild des bär tigen Pfl egers vor seinem inneren Auge aufblitzte. Erst heute früh war er über ihn und den alten Abba-Fan gestolpert, und trotzdem erinnerte er sich an die stürmische Begegnung wie an eine Szene aus einem völlig anderen Leben. So gesehen, hatte er etwas mit Simon gemeinsam. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er und strich dem Jungen über die Perücke. »Und übrigens auch nicht wegen des Lügendetektors.«
»Ich hab bestanden«, waren Simons erste Worte gewesen, mit denen er ihn vorhin traurig begrüßt hatte. Stern wusste, wie es in dem Kleinen aussehen musste. Das Ergebnis hatte ihn zwar vom Vorwurf der Lüge freigesprochen, ihn damit aber gleichzeitig als Mörder gebrandmarkt. Simon sprach die Wahrheit. Robert schämte sich fast ein wenig, dass er sich über diese Nachricht freute. Aber je undurchsichtiger Simons Geheimnis für ihn blieb, desto stärker wuchs seine Hoffnung, was Felix betraf.
»Du musst dir wirklich keine Sorgen machen«, sagte Robert noch einmal und blieb mit Simon vor einem Terrarium mit rattenähnlichen Degus stehen.
»Wieso? Die sind doch alle eingesperrt.« »Das meine ich nicht. Ich rede von deinen bösen Erinnerungen. Machen sie dir denn keine Angst?« »Doch, schon. Aber …«
»Aber was?«
»Aber vielleicht ist das ja meine Strafe.« »Wofür?«
»Vielleicht bin ich deshalb krank. Weil ich früher so schlimme Sachen getan habe.«
»Das darfst du nicht mal denken, hörst du?« Stern packte den Kleinen an den Schultern seiner Cordjacke. »Wer immer diese Menschen getötet hat, der Simon Sachs,
der hier gerade vor mir steht, ist dafür nicht verantwortlich.«
»Aber wer dann?«
»Das versuche ich ja gerade herauszufi nden. Und dafür brauche ich deine Hilfe.«
Stern war froh, dass das Nachttierhaus noch spärlicher besucht war als der Rest des Zoos. So konnte kein Außenstehender diese skurrile Unterhaltung verfolgen. Er beschloss, für einen Moment auf Simons Hirngespinst einer Wiedergeburt einzugehen, während sie weitergingen. »Hast du denn damals, also vor fünfzehn Jahren, einen anderen Namen gehabt?«
»Weiß nicht.«
»Oder anders ausgesehen?«
»Keine Ahnung.«
Er ließ Simon wieder los. Der Junge pochte mit dem Knöchel seines Zeigefi ngers gegen die Scheibe eines kleinen Terrariums, in dem nur ein Erdhügel und verschiedene Wüstenpfl anzen, aber kein Tier zu sehen war.
Carina war wieder zu ihnen gestoßen, hielt sich aber etwas abseits, als wolle sie das Gespräch nicht stören. Stern kam kurz in den Sinn, dass es vielleicht kein Zufall war, über unerklärliche Wahrnehmungen ausgerechnet vor dem Fledermausgehege zu reden. Die fl iegenden Blutsauger, die hier ihr Dasein fristeten, »sahen« ihre Wirklichkeit als Abbild refl ektierter Ultraschalllaute.
»Weißt du, warum du die Männer getötet hast?«, fragte er. Spätestens bei dieser Frage hätte ein Passant, der sie zufällig belauschte, den Sicherheitsdienst verständigt. »Ich weiß nicht. Ich glaub, sie waren böse.« Knack. Knack.
Stern musste an die flackernde Kellerlampe denken, die Si mon ihm heute Morgen beschrieben hatte.
An. Aus.
Bevor er ihn fragen konnte, ob er sich wieder an etwas erinnern konnte, hustete Simon einmal trocken, und Stern sah erschrocken zu Carina, die es auch gehört hatte. Sie eilte sofort zu ihnen.
»Alles okay?«, fragte sie besorgt und fühlte die Temperatur von Simons Stirn. Dann führte sie ihn zu einer großen Anzeigetafel in der Mitte des Raumes, auf der den Besuchern ein Überblick über die hier lebenden Tiere geboten wurde. Es war der hellste Punkt im gesamten Keller, und deshalb konnte man hier etwas mehr als nur schemenhafte Umrisse erspähen. Stern sah die
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