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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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war penibel aufgeräumt und sauber. Trotz des trüben Herbstlichtes, das sich seinen Weg nur mühsam durch die Fenster zu bahnen vermochte, hatte der Raum eine freundliche, angenehme Ausstrahlung.
»Ist hier jemand?«, versuchte es Stern erneut. Dann wirbelte er herum, als er im Nachbarzimmer ein dumpfes Krachen hörte.
Was ist das?
Das Rumpeln wiederholte sich. Es klang hölzern, fast so, als wäre ein Knochen zu Boden gefallen. Stern eilte auf den Flur zurück und blieb vor der nächsten Tür stehen. Er drückte die geschwungene Messingklinke nach unten. Vergeblich. Das dahinterliegende Zimmer war verschlossen. »Dr. Tiefensee?« Er ging in die Knie und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, denn die Schreibtischlampe des Psychiaters stand ungünstig und blendete ihn. Stern blinzelte, und dann sah er es deutlich. Ein Stuhl. Er lag umgekippt mit der Lehne auf dem
Parkett. Im ersten Moment war er sich noch nicht sicher, woher der Schatten rührte, der sich wie ein wabernder Vorhang über den Boden bewegte. Doch als er das Röcheln hörte, verschwendete er keinen weiteren Gedanken mehr. Er riss gewaltsam die Klinke nach unten und rüttelte mit aller Kraft daran, die ihm zur Verfügung stand. Sinnlos. Also warf er sich gegen die Tür. Einmal. Dann ein zweites Mal mit Anlauf. Das lackierte Kiefernholzblatt erzitterte, und die Scharniere stöhnten, doch erst nach dem vierten Versuch war der Widerstand gebrochen.
Stern hörte ein lautes Krachen, dann riss die Schulter seines Sakkos an einem langen Holzsplitter auf, als er unbeholfen mit der aufgebrochenen Tür in das gediegene Sprechzimmer fi el.

13.
B itte nicht schon wieder!
Stern schlug die Hand vor den Mund und starrte bewegungslos auf Tiefensees Beine. Sie steckten in hellgrauen, frisch gebügelten Flanellhosen und zuckten spastisch einen Meter über dem Boden. Sein Blick wanderte höher, und am liebsten hätte er sich abgewandt. Er konnte die schmerzhaft aus den Höhlen tretenden Augen kaum ertragen, die ihn plötzlich verzweifelt fi xierten. Doch am Ende waren es die Hände des Psychiaters, die ihn fortan in seinen schlimmsten Träumen heimsuchen sollten. Tiefensees Finger rutschten immer wieder an der Drahtschlinge ab, die sich tief in seinen
Hals gegraben hatte.
Der Haken in der stuckverzierten Altbaudecke war für die Aufhängung von schweren Kronleuchtern vorgesehen. Deshalb konnte er problemlos das Gewicht des hochgewachsenen Arztes tragen.
Stern verlor kostbare Sekunden, indem er den Stuhl wieder aufstellte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hing der Psychiater zu hoch. Seine Füße berührten nicht die Sitzfl äche, von der er gesprungen war.
Oder gestoßen wurde?
Er wollte nach den Beinen des Arztes greifen, doch sie zappelten zu stark. Es gelang ihm einfach nicht, sie auf seine Schultern zu setzen, um sie wieder nach oben zu stemmen. Verdammt, verdammt, verdammt …
»Halten Sie durch«, rief er Tiefensee zu, während er an dem schweren Biedermeierschreibtisch zog, um ihn unter den sterbenden Mann zu wuchten, dessen Röcheln immer leiser wurde. Weitere Sekunden verrannen, und erst als sich die hektischen Bewegungen des Psychiaters verlangsamten, ließ Stern von dem Schreibtisch ab. Er stieg jetzt selbst auf den Stuhl, umklammerte Tiefensee in Höhe der Kniekehlen und hob ihn an.
»Zu spät.«
Die telefonverzerrte Stimme kam so überraschend, dass Stern fast losgelassen hätte.
»Wer ist da?«, hustete er, unfähig, sich in seiner Position nach hinten umzudrehen.
»Erkennen Sie mich nicht?«
Natürlich tue ich das . Selbst wenn ich es wollte, könnte ich
deine Stimme nie mehr vergessen.
»Wo sind Sie?«
»Hier. Direkt neben Ihnen.«
Stern starrte nach unten auf die Platte des Schreibtisches, den er eben kaum von der Stelle bekommen hatte. Die rot blinkende Webkamera des Computermonitors war genau auf ihn gerichtet. Der Killer unterhielt sich über das Internet mit ihm!
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Stern außer Atem. Mit jedem Wort nahm das Gewicht Tiefensees zu, und er fragte sich, wie lange er ihn noch würde halten können. »Ich glaube, Sie dürfen jetzt loslassen«, empfahl die Stimme.
Stern sah nach oben. Tiefensees Kopf hing ihm schlaff entgegen, den Mund zu einem letzten Schrei geöffnet. Aus seinen Augen war jedes Leben gewichen. Trotzdem wollte Robert den Griff nicht lockern und verharrte in seiner Position. Jetzt aufzugeben

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