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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Sondern vor dem Wahnsinnigen, dessen Stimme er jetzt zum ersten Mal unverzerrt gehört hatte.
Er nahm die Hand vom Gesicht, von der er gar nicht wusste, wie sie vor seinen Mund gekommen war. Dann hörte er Schritte. Gummisohlen entfernten sich mit dem leisen Ploppen aufspringender Bälle.
Vorsichtig löste sich Stern von der Wand, an der er gelehnt hatte, und trat mit zitternden Beinen in den Gang. Rechtzeitig genug, um die langhaarige Gestalt zu erkennen, die die schwere Eingangstür mit einem Rums hinter sich ins Schloss fallen ließ. Stern zuckte zusammen und sah zu Engler herab. Wie erwartet, lag der Ermittler reglos am Boden, die Arme und Beine unnatürlich von sich gestreckt, als wäre er bei
voller Fahrt aus einem fahrenden Wagen geschleudert worden.
Stern beugte sich über ihn, tastete nach seinem Puls. Erleichtert darüber, dass der Kommissar noch lebte, schlich er vorsichtig zum Eingang. Seine Schritte wurden etwas schneller, nachdem er aus der Tür getreten war und den ersten Absatz des Treppenhauses hinter sich gebracht hatte. In Höhe des dritten Stockwerkes begann er zu laufen. Er hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, während er die Stufen hinunterrannte. Doch als er schließlich aus dem Mietshaus hinaus auf die belebte Straße jagte, wusste er, dass er zu spät kam. Viel zu spät. Der langhaarige Mann in dem weißen Arztkittel, der eben Engler außer Gefecht gesetzt und zuvor Tiefensee ermordet hatte, war schon lange in dem Pulk aus Touristen, Geschäftsleuten und Passanten verschwunden. Und mit ihm die Wahrheit über Felix.
15.
D ie Anlagen für die nachtaktiven Tiere befanden sich im
Keller des Raubtierhauses. Die diffuse Dunkelheit, die sie im Inneren empfi ng, erinnerte Stern an jene Kinobesuche, bei denen man zu spät zum Hauptfi lm erschienen war und sich nun während einer ganz besonders düsteren Szene seinen Sitzplatz suchen musste. Seine Nase hingegen atmete den feuchtwarmen Dunst ein, der einem auch in einer überheizten Tierhandlung entgegenschlägt.
»Ist ja abgefahren.« Simon zog ihn zu einer dicken Glas scheibe, hinter der mehrere Fellknäuel mit weit aufgerissenen Augen herumwuselten. Aus irgendeinem Grund sprachen Menschen in der Regel leiser, sobald sie einen dunklen Raum betraten, und auch der Junge fl üsterte jetzt: »Die sehen ja stark aus.«
»Zwergplumplori«, las Stern von der matt beleuchteten Anzeigetafel ab, ohne die winzigen Halbaffen auch nur eines Blickes zu würdigen. Er stand noch viel zu sehr unter Schock. Nach seiner Flucht aus der Praxis hatte Borchert ihn hierher zu dem verabredeten Treffpunkt mit Carina gefahren. Und jetzt stand er im Nachttierhaus des Berliner Zoos, und sein Gehirn war noch längst nicht in der Lage, irgendwelche neuen Eindrücke zu verarbeiten. Wie in einer Endlosschleife rotierten die immer gleichen unerklärlichen Fragen in seinem Kopf:
Wer ist die »Stimme«? Woher weiß Simon von den Leichen?
Wer hat all die Männer in der Vergangenheit umgebracht?
Und warum mordet jemand in der Gegenwart, um das her-
auszufi nden?
Überrascht musste Stern sich eingestehen, dass ihn diese Fragen nur aus einem einzigen Grund interessierten: weil die Antworten ihm seinen Sohn zurückbringen konnten. Er schloss die Augen.
Was für ein Irrsinn.
Mittlerweile hoffte er wirklich ernsthaft, Simons Erinnerungen könnten einen Beweis für seine Wiedergeburt darstellen. Und damit einen Beweis dafür, dass Felix am Leben war. Entgegen allen objektiven Fakten.
»Entschuldige, wie bitte?«
Stern beugte sich zu Simon hinunter, der ihn am Ärmel zupfte. Der Junge hatte etwas gesagt, doch seine Worte waren auf dem Weg zu seinen Ohren irgendwo in der Dunkel heit verlorengegangen.
»Kommt Carina bald nach?«, wiederholte Simon seine Frage.
Robert nickte. Im Augenblick hatte sie sich auf die Besuchertoilette zurückgezogen, um in aller Ruhe für sich allein weinen zu können.
Als sie sich vorhin am Elefantentor getroffen hatten, war Carina so wütend auf ihn gewesen wie selten zuvor in ihrem Leben. Nur mit Hilfe eines befreundeten Pfl egers war es ihr gelungen, Simon aus dem Krankenhaus zu schmuggeln, und sie hatte auf der Stelle von ihm wissen wollen, warum sie dieses Risiko auf sich nehmen musste. Und so hatte Robert ihr alles erzählt. Flüsternd, damit Simon nichts mitbekam, während sie durch den schlechtbesuchten Zoo spazierten: von der DVD, dem Jungen mit dem Feuermal und der unheimlichen Aufgabe, die ihm die »Stimme« gestellt hatte. Und anders als

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